01.09.06 – Sieben Stichpunkte für den Weltfrieden


Offener Brief der autonomen antifa [f] an die sogenannte Friedens- und Antikriegsbewegung

Liebe so genannte Friedensbewegte,
in den letzten Wochen fanden anlässlich der militärischen Auseinandersetzungen im Nahen Osten zahlreiche “Friedens-, bzw. Antikriegsdemonstrationen” und -Kundgebungen statt, an denen auch linke Gruppen, Einzelpersonen und Parteien beteiligt waren. In vielen Orten nahmen daran ebenfalls offen nationalistische, antisemitische, homophobe und religiös-fundamentalistische Gruppen wie die islamistische Hisbollah und die Hamas teil. Wir denken, dass dies kein Zufall war und dass dies nicht dem Umstand geschuldet ist, dass hier rechte politische Gruppierung eine fortschrittliche Bewegungen “dominieren”, sondern vielmehr, dass Art und Weise der Proteste diese reaktionären Kräfte geradezu angezogen hat, ja anziehen musste. Eine “Antikriegsbewegung”, soviel vorweg, wie wir sie in den letzten Wochen auf den Straßen von Frankfurt, Köln, Berlin, Duisburg und vielen anderen deutschen Städten beobachten mussten, spricht jeder fortschrittlichen und linken Perspektive Hohn.
In der leisen Hoffnung, dass die so genannte (linke) Antikriegsbewegung endlich die notwendigen Konsequenzen zieht, wollen wir im folgenden noch mal sieben Punkte darlegen, die uns besonders wichtig erscheinen, allerdings keinen Anspruch auf Vollständigkeit erheben.

  1. Die vollkommen einseitige und unreflektierte Parteinahme gegen Israel ist Teil des oben genannten Problems. Trotz ständiger Raketenangriffe der Hisbollah, trotz immer wiederkehrender Selbstmordattentate gegen die israelische Bevölkerung, trotz einer Flut offen antisemitischer Propaganda in Israels Nachbarstaaten, in offiziellen palästinensischen Schulbüchern usw., trotz unverhohlener Vernichtungsdrohungen aus dem Iran ist man sich auf den Friedensdemos einig: Israel führt einen “Angriffskrieg”. Man war sich auf den Friedensdemos sicher, wo das Böse sitzt: In “USrael” (Zitat: npd.de). Auch wurde kein Wort über die deutsch-europäischen Geschäfte mit islamistischen Terrorregimen, wo man, nur als Beispiel, Homosexuelle wegen ihrer sexuellen Orientierung öffentlich henkt, verloren. Überhaupt wäre, ganz ohne Unterstellungen zu Fragen, wo der Aufschrei der so genannten Friedensbewegung bei nicht weniger brutalen Konflikten wie z.B. dem russischen Tschetschenienkrieg, den Aktionen des islamistischen Regimes im Sudan oder sonst wo bleibt, wo die “Schuldigen” eben mal nicht die üblichen Verdächtigen (nämlich die USA und Israel) sind. Mit Realitätsverweigerung alleine lässt sich solch eine undifferenzierte Sicht auf weltpolitische Ereignisse jedenfalls kaum mehr erklären.

  2. Ebenso ignoriert die so genannte Antikriegsbewegung den Doppelcharakter Israels. Einmal wird Israel, ganz unverhältnismäßig, jede Militäraktion vorgeworfen, die ohne Zweifel oft brutal, überzogen und grausam sind, die allerdings keineswegs Besonderheiten des israelischen Staates darstellen, sondern schlichtweg Attribute des bürgerlichen Staates und seines Gewaltmonopols an sich sind. Das allein Israel vorzuwerfen grenzt an Heuchelei. Man stelle sich vor, was in Deutschland passieren würde, wenn mehrere hundert Raketen auf dessen Territorium abgeschossen werden würden. Überdies wird übersehen, dass es gar nicht darum gehen kann, Israel generös ein “Existenzrecht” zuzugestehen. Wer Israel nicht auch als Konsequenz aus dem Holocaust und als Schutzraum für die von einem weltweiten Antisemitismus bedrohten Jüdinnen und Juden wahrnehmen will, verschließt sich jeder vernünftigen Lehre aus der Geschichte.

  3. Wer meint, Bündnisse, und seien es “Zweckbündnisse”, auf “Demonstrationen gegen den Krieg” mit Rechtsradikalen wie der Hamas, der Hisbollah oder anderen Reaktionären schließen zu müssen steht aus emanzipatorischer Sicht klar auf der anderen Seite. Die religiösen Fundamentalisten greifen streikende ArbeiterInnen an, verbreiten übelsten Antisemitismus und Sexismus, sind aufklärungsfeindlich und streben einen ultra-autoritären Staat an, in dem das Leben der Religion untergeordnet ist. Und dies so weit, dass deren selbsternannte Brüder im Geiste, Al Qaida, bekanntlich ganz zu Recht erklären können: “Ihr liebt das Leben, wir den Tod.” Eine Tatsache übrigens, angesichts der die formalistische Kritik, dass Israel momentan einfach ganz asymmetrisch über die besseren Waffen verfügt mehr als schal wird. Wäre eine symmetrische Situation, in der ein zumindest zweckrationalen Maßstäben gehorchender bürgerlicher Staat und eine Vereinigung religiöser Faschisten dieselben (Atom-) Waffen hat eigentlich besser, nur weil sie nach “sportlichen Maßstäben” fairer wäre?
    Aus all dem folgt, dass eine wirkliche Verbesserung des Lebens für die Menschen im Nahen Osten (und darüber hinaus) nur denkbar gegen die Hisbollah und ähnliche Gruppierungen ist. Wenn eine emanzipatorische Linke angesichts der Situation im Nahen Osten auch mehr Fragen als Antworten haben sollte, so ist doch einiges klar. Zum Beispiel die Erkenntnis, dass ein Weg zu einem “gerechten Frieden für alle Menschen dort”, also einem Frieden der tatsächlich mehr ist als die Abwesenheit von Krieg, nur über die Zerschlagung der Hisbollah und aller anderen fundamentalistischen Vereinigungen führen kann.

  4. Selbstverständlich bedeutet all dies nicht, dass eine Kritik an der konkreten israelischen Politik und am militärischen Vorgehen der westlichen Staaten nicht erlaubt ist. Vielmehr ist sie geboten, allerdings nicht weil hier nach platt antiimperialistischem Muster ein “nationaler Befreiungskampf unterdrückt” wird. Nein, vielmehr, weil auch ein bürgerlicher Staat selbstverständlich nicht genuin das Wohlergehen der einzelnen Menschen im Sinne haben kann und staatlicher Rassismus, zunehmende Entrechtung und Militarisierung eben eine globale Begleiterscheinung der aktuellen kapitalistischen Entwicklung, die über Leichen geht, sind. Überdies spielen wahrscheinlich noch eine Menge andere Großmachtinteresse (z.B. der EU, des Iran, der USA, Chinas, etc.) in dem aktuellen Konflikt eine Rolle. Das Glück der Menschen ist wohl für keines das primäre Ziel; auch das ist allerdings kein Argument für eine vereinfachende und einseitige Sicht der Dinge. So radikal wie die Wirklichkeit sein zu wollen, erfordert zuerst einmal diese überhaupt zur Kenntnis nehmen zu wollen, auch und gerade in ihrer Komplexität.

  5. Die gewalttätigen Übergriffe, die auf israelsolidarische KritikerInnen der Friedensdemos erfolgt sind, zeigen vor allem den blinden Fleck in der Argumentation der so genannten Friedensfreunde. Kritik, auch polemische, muss ertragen können, wer sich allen ernstes als LinkeR im aktuellen Konflikt so einseitig und tendenziell reaktionär positioniert, wie das die so genannten Friedensdemos getan haben. Auch diejenigen, die bei den besagten Übergriffen nicht selbst Hand angelegt haben, sondern sich stumm ins Fäustchen gelacht haben können nicht behaupten, für eine emanzipatorische Position in dem Konflikt zu stehen.
    Gewalt darf kein Mittel einer innerlinken Auseinandersetzung sein. Wir halten es aber für legitim, sich gegen solche Übergriffe mancher “linker FriedensfreundInnen”, auch militant, zur Wehr zu setzen.

  6. Lippenbekenntnisse reichen nicht: Halbherzige Distanzierungen von in Wort und Tat rechtsradikalen Gruppen wie z.B. der Hisbollah helfen nicht weiter. Es braucht eine wirkliche und offensive politische Auseinandersetzung mit deren Inhalten (und denen mancher Friedensdemos) und eine Absage an die Konstruktion simpler Feindbilder sowie religiöser und nationalistischer Mobilisierungen. Trotz der notwendigen und berechtigten Kritik am Staat im Allgemeinen und auch der Politik der westlichen Staaten darf das aber nicht heißen, Unterschiede einzuebnen. So mörderisch Kriege der westlichen Staaten ohne Zweifel auch sind und so sehr die Politik mancher westlicher Staaten direkt oder indirekt gerade die erwähnten rechten Gruppierungen unterstützt hat: Ein bürgerlicher Staat ist nicht mit der vorbürgerlichen Herrschaft z.B. islamistischer Banden, die übrigens im Falle der Hisbollah und der Hamas Regierungsparteien sind, gleichzusetzen. Ob “Gesetzesbrechern” in der Regel Körperteile abgeschnitten oder diese doch “nur” eingesperrt werden ist ein kleiner Unterschied ums Ganze.

  7. Grundsätzlich fällt immer wieder auf, dass einige Teile der Linken selbst reaktionäre Positionen vertreten und sich dann wundern, wie die Nazis der Freien Kameradschaften und/oder der NPD, wie z.B. bei den Protesten gegen den Irakkrieg oder auch einigen Montagsdemos, mit “linken” Forderungen herum ziehen können. Sinnvoller wäre es, endlich Abstand von einem moralisierenden und vereinfachenden Politikverständnis zu nehmen, das an die Stelle einer vernünftigen Analyse der komplexen Gesellschaft im globalen Kapitalismus das Bedürfnis nach Identität und gutem Gewissen setzt. Schluss zu machen mit den Überresten einer antiimperialistischen Sicht auf die Welt, die nur noch platte Bekenntnisse kennt und durch deren Brille sich die konkreten Probleme der Weltpolitik immer monokausal in die Aufteilung Oben und Unten, Gut und Böse auflösen lassen. Eine Sicht, die zum Ergebnis hat, dass, entgegen jeder sozialwissenschaftlichen Erkenntnisse über die Funktionsweise von Herrschaft aus den letzten 40 Jahre die Leute immer noch da abgeholt werden sollen, wo sie stehen. Dies hat meist nur noch zur Folge, dass selbst linke Zusammenhänge reaktionäre Positionen vertreten. Antiamerikanismus, Fundamentalismus und Antisemitismus sind jedoch so wenig ignorier- oder gar positiv wendbare Positionen wie das Rassismus und Nationalismus sind.

Fazit.

Eine emanzipatorische Kritik am staatlichen Rassismus gegen Flüchtlinge, an Entrechtung, Militarisierung und Kriegspolitik muss nationale, kulturelle und religiöse Kollektive aufbrechen und die Dinge beim Namen nennen. Nicht zuletzt auch im Interesse aller (z.B. auch libanesischer) Homosexueller, Andersdenkender, Frauen, Linker. Eine Antikriegsbewegung, die sich selbst ernst nimmt und die, wie geschehen, trotzdem im Großteil nicht einmal eine glaubhafte Position jenseits nationalistisch-fundamentalistischer Kreise und anti-israelischer Hetze bezieht, kann nicht Teil der Lösung sein. Sie ist Teil des Problems. Die anti-israelischen Demonstrationen der so genannten Friedensbewegung im Bündnis mit nationalistischen und fundamentalistischen Kreisen sind ihr politischer Bankrott. Eine emanzipatorische Bewegung gegen den weltweiten Kriegszustand und die globale Barbarisierung des Kapitalismus kann wahrscheinlich nur ohne diese “Friedensbewegung” entstehen, ganz sicher nicht mir ihr.