01.12.04 – Nachbereitung „Redefinde Resistence“


Nachbereitungspapier der autonomen antifa [f] zu den Aktionen unter dem Motto „Gegen Sozialabbau. Sicherheitswahn. Geschichtsrevisionismus. redefine resistance: die reaktionäre Formierung durchbrechen – deutsch-europäische Realitäten angreifen!“

Inhalt:

1. Um was ging es?
2. Was ist passiert
3. Was ist reaktionäre Formierung?
4. Wer steckt dahinter?
5. Was tun? 

1. Was war das Ziel?

Unter dem nicht zu knappen Motto „Gegen Sozialabbau. Sicherheitswahn. Geschichtsrevisionismus. redefine resistance: die reaktionäre Formierung durchbrechen – deutsch-europäische Realitäten angreifen!“ haben wir, zusammen mit verschiedenen anderen Gruppen, Zusammenhängen und Einzelpersonen, von September bis November 2004 eine kleine Kampagne mit mehreren unterschiedlichen Aktionen organisiert. Ziel war es, die unterschiedlichen Facetten der „reaktionären Formierung des deutsch-europäischen Standortes“ zu thematisieren und – nicht zuletzt in der leisen Hoffnung auf eine sich eventuell daraus ergebende Diskussion innerhalb der Linken – den Zusammenhang zwischen diesen „Phänomenen“ deutlich zu machen . Die Kampagne ging von der Erkenntnis aus, dass „sowohl die reformistische wie auch die radikale Linke aktuell dem Problem ausgesetzt ist, dass sie – sofern sie überhaupt noch vorkommt – nur defensiv, als rückwärtsgewandte „Fortschrittsfeinde“, „Bremser“ und „Blockierer“ vorkommt“. Gleichzeitig ist in allen gesellschaftlichen („Teil-„) Bereichen eine reaktionäre Entwicklung festzustellen. Dem hat die radikale Linke nichts entgegenzusetzen. Darüber hinaus nimmt sie diese Entwicklung scheinbar auch nicht in ihrem Ausmaß zur Kenntnis. Dies ist um so fataler, als die Linke, in dem sie sich diese Entwicklung in mundgerechte Teilbereiche zerlegt (Geschichtsrevisionismus, Sozialabbau, Sicherheitswahn, staatlicher Rassismus, Nationale Identität, Antisemitismus etc.), das nationale Projekt – aus dem diese reaktionären Entwicklungen folgen – verpassen muss. Dieses Projekt ist: Deutschland im europäischen Gewand fit zu machen für den Wettbewerb im globalen Kapitalismus. Eine radikale Linke, die sich dem nicht mal dem Anspruch nach auf allen Ebenen entgegen stellt, sich statt dessen weiter durchwurstelt und vor allen Dingen damit glänzt, kaum mehr überhaupt vernünftig begründen zu wollen/können, warum sie was tut – ist keine. Es erscheint in diesem Zusammenhang sinnvoll, die gegen angeblich „große Würfe“ ins Feld getragene „kritische“ Ratlosigkeit – die doch nur ein immer so weiter wie bisher meint – als den Unwillen derjenigen zu entziffern, die keine Verantwortung übernehmen wollen – weil sich eigentlich schon abgefunden und eingerichtet haben.

Mithin waren unsere Aktivitäten so sehr der Versuch auf diese Entwicklung überhaupt aufmerksam zu machen und eine Diskussion darüber anzustoßen, als auch den Aufruf zu einer „antikapitalistischen Bewegungen gegen den eigenen Standort“ und seine Ausprägungen mit Praxis zu unterfüttern.

2. Was ist passiert?

Die Kampagne gegen die reaktionäre Formierung bestand aus Kundgebungen, Infoveranstaltungen und verschieden Plakaten / Flyern / Aufklebern. Es gab in diesem Zusammenhang drei Kundgebungen zu denen mit anderen Gruppen und Zusammenhängen mobilisiert wurde: Unter dem Motto „Gegen Sozialabbau und Arbeitswahn – keinen Finger krumm für diese Gesellschaft!“ in Hanau gegen den hessischen SPD-Landesparteitag, unter dem Motto „Heimat vertreiben!“ gegen die zentrale Veranstaltung des Bundes der Vertriebenen anlässlich des „Tages der Heimat“ in Frankfurt und unter dem Motto „Freiheit stirbt mit Sicherheit! Hessen vorn: Folter. Überwachung. Abschiebung.“ anlässlich der Eröffnung des sogenannten  Folter-Prozesses gegen Wolfgang Daschner. Darüber hinaus haben wir uns mit einem eigenen Redebeitrag, Flyer und LKW an der Frankfurter alternativen Kulturparade – aka Nachttanzdemo – beteiligt, sowie in verschiedenen Städten kleinere und größere Infoveranstaltungen gemacht (u.a. Gera, Mannheim, Münster, Saarbrücken, Frankfurt, Gießen, Köln, Leipzig) und bei anderen Demos Redebeiträge gehalten (u.a. am 3.10. in Büren und auf der Anti-Berufsverbotsdemo in Heidelberg). Die jeweiligen Aufrufe und Reden sind (bald wieder) auf der Homepage www.autonome-antifa.com nachzulesen.

Die Beteiligung bei den verschiedenen Aktionen war erwartungsgemäß recht unterschiedlich. An den jeweiligen Kundgebungen nahmen zwischen  30 bis knapp hundert  Leute aus verschiedenen Spektren teil. Die Infoveranstaltungen wurden von unter 10 bis über 50 Leuten genutzt.  Die Demo wurde von ungefähr 300 Leuten besucht.

Die Presseresonanz war ebenfalls recht uneinheitlich. So wurden die Aktionen anlässlich des SPD-Parteitages relativ ausführlich in der Lokalpresse wiedergegeben, die Anti-BdV-Kundgebung dagegen nur eher kurz erwähnt und anlässlich der Demo am 30.10. gaben die meisten Zeitungen (FAZ, Frankfurter Neue Presse, BILD), von einer kleinen Ankündigungs- Randnotiz in der Frankfurter Rundschau abgesehen, nur die Pressemitteilung der Polizei wieder und beschäftigten sich mit „gewaltbereiten Antifa“ und der Schwierigkeit im Herbst „das Vermummungsverbot“ durchzusetzen. Überregionales Medieninteresse gab es anlässlich der Aktionen zur Eröffnung des Daschner-Prozesses. Dabei beschränkte sich die Berichterstattung zum Großteil jedoch darauf, die Kritik der radikalen Linken auf die Position von Menschenrechtsgruppen zu reduzieren. Angesichts einer nicht mehr existenten sozialliberalen Öffentlichkeit scheint uns dies jedoch notwendig. Einerseits, da die bürgerliche Gesellschaft zunehmend vor sich selbst in Schutz genommen werden muss – schon um als radikale Linke überhaupt eine Kritik formulieren zu können. Andererseits da bei solchen Anlässen durchaus die Möglichkeit besteht, als radikale Linke überhaupt wahrnehmbar zu sein.

Die Polizei  war jeweils mit einem Großaufgebot vor Ort, hielt sich bei allen Aktionen aber eher zurück. Nur bei der Demo gab es einige Meinungsverschiedenheiten in Bezug auf herbeihalluzinierte Vermummung (Sonnenbrillen, Basecaps) einiger Teilnehmer, die aber nach einigem hin und her und der Parole „Sonnenbrillen bleiben, sonst klirren Scheiben…“ zur Zufriedenheit der DemonstrantInnen gelöst werden konnte. Des weiteren war die, wegen eines spontanen Hausbesuches bei Herrn Daschner alarmierte Dorfpolizei offensichtlich überfordert und dementsprechend ruppig.

Darüber hinaus nutzten die Polizeikräfte jedoch die Gelegenheit und filmten und kontrollierten, was das neue hessische Polizeigesetz hergibt (oder auch nicht).

Das Resümee: Gemessen an der Anzahl der Teilnehmer gibt es gewiss keinen Grund für überschäumenden Optimismus. Dafür, dass es bei der Demonstration weder einen konkreten „Feind“ noch ein symbolträchtiges Datum als Grund zu benennen gab, das „Thema“ also durchaus komplex war, stellt die Mobilisierung  jedoch einen ausbaufähigen Anfang dar. Des weiteren gelang es im Zuge der Aktionen, zumindest teilweise, eine radikale Kritik am „deutsch-europäischen Standort und dessen reaktionärer Formierung“ in die Öffentlichkeit zu bringen. Positiv zu bewerten ist außerdem das bundesweite Interesse inklusive  Beteiligung. Und nicht zuletzt misst sich der Erfolg einer Mobilisierung nicht allein an der „absoluten Teilnehmerzahl“ und der Anzahl der Presseartikel und Fernsehinterviews, sondern auch daran in wie weit über den Bekanntenkreis hinaus überhaupt mal wieder Diskussionen geführt, Kontakte geknüpft, Konzepte ausprobiert wurden. Ganz abgesehen von der Notwendigkeit, über die konkreten inhaltlichen Punkte hinweg gerade anpolitisierten Jüngeren mit einer gewissen Kontinuität, nicht nur wahrnehmbare Strukturen, sondern auch die Möglichkeit zu stellen, sich auch im lokal Rahmen einbringen und auseinandersetzen zu können.

Dass die „Sicherheitskräfte“ die Artikulation einer radikalen Linken zum Anlass nehmen, ihre Datenbestände über tätige Staatsfeinde, die das eventuell ernst meinen könnten, zu aktualisieren war zu erwarten. Die dreisten Versuche, „Vermummungsverbot“ und Kontrollen auszudehnen, sollte die radikale Linke nicht nur im Rhein-Main Gebiet jedoch nicht widerspruchslos hinnehmen, schon um keine schleichende Normalisierung eintreten zu lassen. Um den Preis überhaupt öffentlich wahrnehmbar zu sein, wird sich die Überwachung durch den Staat – realistisch gesehen – schlechterdings auch nicht vollkommen verhindern lassen.

In wie weit unser Versuch eine radikal linke Perspektive auch inhaltlich weiterzuentwickeln und einen notwendigen Beitrag zur bundesweiten  Diskussion und Praxis zu leisten erfolgreich war, wird sich noch zeigen müssen.  

3.Was ist „reaktionäre Formierung“?

Reaktionäre Formierung beschreibt die aktuelle gesellschaftliche Entwicklung innerhalb des „deutsch-europäischen Standortes“. Sie ist der Rahmen, zu dem sich radikale Gesellschaftskritik hierzulande entweder verhalten kann oder sich im Banalen verlieren muss.

Um sich für den auch durch die technische Entwicklung möglich gemachten, globalen Wettbewerb zu konditionieren und die „Gestaltungsfähigkeit“ (Erika Steinbach) des nationalen Standortes in der Welt auszubauen, befreit sich dieser von den „Fesseln“, die ihm nicht zuletzt die „Systemkonkurrenz“ zum real existierenden Sozialismus und die „Nachkriegszeit“ auferlegt hatten. Für „Deutschland in Europa“ (CDU) bedeutet das einen Umbruchprozess, der einen enormen Gewinn an Macht und Gestaltungsfähigkeiten nach Innen und Außen schon jetzt mit sich bringt. Das bedeutet andererseits direkt eine deutliche Abnahme der Gestaltungsfähigkeit der einzelnen Menschen. Deren Wünsche und Bedürfnisse werden den „Sachzwängen“  des nationalen Standortes zunehmend untergeordnet. Dieses Muster erweist sich auf allen gesellschaftlichen Ebenen als Katalysator für eine zusammenhängende reaktionäre Entwicklung – auch wenn dies nicht immer auf der Hand zu liegen scheint.

Nun soll das nicht heißen, dass die jeweiligen Akteure nicht dafür andere Motivationen anführen könnten. Es ist aber schlichtweg unerheblich, ob sie sich wissentlich und willentlich in diesem Zusammenhang bewegen: Sie tun es objektiv. Es spielt keine Rolle, ob es z.B. dem BdV-Opa auf der Bombenkriegsveranstaltung darum geht, „Deutschland fit zu machen“ oder er einfach nur die Gunst der Stunde nutzen möchte, um seine „traumatischen“ Erfahrungen über das vorgebliche Unrecht welches ihm bei der Vertreibung angetan wurde auf Jörg Friedrichs Veranstaltungen breitzutreten. Die objektive Auswirkung seines subjektiven Handelns ist die Verstärkung eines gesellschaftlichen Diskurses, der zu einem – dem deutsch-europäischen Standort passenden – Nationalbild beiträgt.  

So unterschiedlich diese jeweiligen Entwicklungen sein mögen, sie vollziehen als Ganzes die reaktionäre Formierung. Wo Ole von Beust (CDU) anlässlich der jüngsten „Patriotismusdebatte“ den funktionalen Zusammenhang zwischen neuer nationaler Identität und Sozialabbau auf den Punkt bringt ist auch der Rest nicht weit: „Wer sein Land nicht liebt, wird nicht bereit für schmerzhafte Einschnitte sein“ . Und „sein“ Land zu lieben, welches immer noch mit dem Makel Auschwitz behaftet ist, ist eben nicht immer einfach. Wenn dieses Land dieses „Kapitel“ aber „verarbeitet“ und dies damit allen anderen noch voraus hat – ja, dann lässt sich nationale Identität auch auf breitere Füße stellen, dann kann „deutsch sein“ sogar „cool sein“. Und wenn die Standortverwaltung im globalen Kapitalismus für das Wohl des nationalen Kollektivs letztlich nur noch die Exekution von Sachzwängen erfordert, dann ist auch Kriminalität zunehmend kein gesellschaftliches, sondern ein polizeiliches Problem. Dann muss mit den eventuellen „Störern“ der Sicherheit möglichst rigide verfahren werden. Die Liste lässt sich fortsetzen.

Also noch mal: es mag ideologisch unterschiedliche Gründe für das Handeln der jeweiligen Akteure geben. Die können relativ klug oder auch ziemlich dumm bis wahnsinnig sein. Eigennützig, populistisch, ökonomisch kalkulierend, pathologisch ideologisch – passt alles. Es geht mithin nicht darum, die reaktionäre Formierung nun monokausal in den bewussten oder gar allein ökonomischen Bezug Aller auf das Projekt „deutsch-europäischer Standort“ aufzulösen. Die reale Wirkung aber, die das Handeln fast aller – aufgrund des Fehlens einer radikalen antikapitalistischen Kraft gegen den „eigenen“ Standort hat –ist die reaktionäre Formierung dieser Gesellschaft. Die Zwangsverhältnisse verschärfen sich hinter dem Rücken der Menschen und doch nur durch sie.

Dazu ist diese Entwicklung natürlich keine Oberflächliche, die etwa auf die Sphäre des politischen beschränkt wäre. Die reaktionäre Formierung der Gesellschaft  spiegelt sich auch in den Beziehungen der Menschen zueinander – also auch in deren Denken. Je abstrakter der gesellschaftliche Prozess, dem man alltäglich mit zunehmender Härte unterworfen wird, desto konkreter, ja „handfester“ gibt sich der (unpolitische) „Alltagsverstand“. Das Denken wird dementsprechend ebenso behandelt wie seine potentiellen  Träger;  so wie die Gesellschaft entgesellschaftlicht wird, verblödet das  Denken. Die schon an sich gegebene Partikularität des bürgerlichen Denkens, welche die strukturell gegebene reale Vereinzelung in den kapitalistischen Verhältnissen spiegelt und ergänzt, nimmt mit der Verschärfung eben dieser zu. „Schönes Beispiel“ dafür ist die Diskussion um den Folterpolizisten Daschner: Hier konnte selbst die offensichtliche Inszeniertheit und die Banalität des Gegenstandes der Diskussion – Folter – Heerscharen von Politikern, Journalisten und sogar gestandenen Rechtsphilosophieprofessoren nicht daran hindern, die Zweckrationalität des bürgerlichen Rechts angesichts eines ermordeten Jungen  durch die Hintertür in Frage zu stellen oder zumindest „Verständnis“ zu zeigen. Die in Gesetze gegossene bürgerliche Rationalität selbst zerfällt wie die Gesellschaft in „besondere“ und damit „besonders zu behandelnde  Einzelfälle“ (Oskar Lafontaine). Die Irrationalität sickert durch die rationale Oberfläche unter der sie schon immer gesteckt hat. Gleichzeitig formiert sich die Gesellschaft, in der dem Kapital kein Paroli geboten wird unter dessen Vorzeichen zu einem Standort, der anlassbezogen den Kampf gegen innere und äußere „Feinde“ aufnimmt. Egal ob das nun der Müll in der Innenstadt, die mangelnde Bildung der Jugend, die fehlende Integration der Einwanderer, die faulen Arbeitslosen  oder die Lohnnebenkosten sind – am Ende sind die Menschen meist nicht nur noch zugerichteter als ohnehin schon, sondern wahrscheinlich auch einige davon zur Strecke gebracht worden – so oder so.

4. Deutsch-europäischer Standort – wer steckt dahinter?

Es klang ja schon an: wie immer – das Kapital natürlich. Wer sonst? Allerdings, auch dies ja inzwischen reichlich banal, nicht Form seiner jeweiligen, personalisierbaren Lobbygruppen , sondern als objektive gesellschaftliche Klasse. Und solange dagegen keine antagonistische Klasse „für sich“ erkennbar ist – wie immer diese auch zustande kommen soll – lassen sich da getrost alle dazu zählen, die am Projekt einer „zeitgemäßen nationalen Identität“ mitstricken. Also die BdV-Oma wie der Bundeskanzler, die CDU, der Großteil der Gewerkschaften, die Grünen, die PDS, der Kulturbetrieb, etc. Sie alle schließlich sind sich sicher, dass „wir“ einen Standort zu verwalten hätten. Und spätestens da treffen sich die unterschiedlichsten Motive immer wieder. Dementsprechend hecheln auch gerade die letzten Sozialdemokraten in der „neuen Linkspartei“ dem nationalen Diskurs nur hinterher. Und „realitätsuntauglich“  ist ihre Argumentation dann auch wirklich, weil sie den schon immer bestehenden, doch erst jetzt erklärten „Paradigmenwechsel“ innerhalb „ihres“ Sozialstaates ignorieren müssen, um trotzdem dabei sein zu können: Statt der (und sei es nur schrittweisen) Anpassung der Verhältnisse an die Bedürfnisse des Menschen, geht es nun erklärtermaßen (wieder) um die Anpassung des Menschen an die Verhältnisse. Gegen die möglicherweise daraus erwachsende Einsicht in den unmenschlichen Charakter dieser Gesellschaft und  die Vergeblichkeit seiner „Zähmung“ könnte sich die nationale Karte auch für Teile der Linken als das Mittel zur weiteren Identifikation mit ihrer eigenen Abwicklung erweisen. Dadurch zeigt sich: Ideologie ist keine reine Einbildung, vielmehr materialisiert sie sich nicht nur in gesellschaftlichen Diskursen, der Praxen ihrer Institutionen etc., sondern kann dazu auch eine gewissermaßen pragmatische Antwort auf die realen Verhältnisse sein. Zwar kittet die deutsch-europäische Identität die zunehmend wieder offen antagonistische Gesellschaft zusammen, die bekanntlich nicht zusammen gehört, aber sie ist auch mehr als der bloße Vorhang hinter dem „sich das reale Unrecht zusammen zieht“. Sie „belohnt“ das Individuum für sein Stillhalten und seine Selbstzurichtung damit, die Welteroberung durch Unterordnung zumindest im Geiste nachvollziehen zu können. Dabei kann die ´“Welteroberung“ auch so etwas kleines wie das Vorgehen gegen unliebsame Minderheiten o.ä. sein. Gesellschaftliche Ohnmacht und privates Elend werden durch die – mit dem  Willen dabei zu sein – gegebene Notwendigkeit dem „eigenen“ Standort die Daumen drücken zu müssen,   immerhin noch zum nationalen Erlebnis.

Veränderung braucht dagegen also mehr als beschriebenes Papier. Denn wenn Ideologie mehr ist als bloß falsche Information, dann dürfte es in der Regel nicht ausreichen, darüber aufzuklären. Dann müssen die alltäglichen Verhältnisse kontinuierlich durchbrochen werden, die den Einzelnen durch den Zwang zur Verwertung und der nationalen Eingemeindung seines Bewuss

tseins schon ihrer Tendenz nach daran hindern als solcher überhaupt erst mal zu denken. In dem Maße, in dem sich die Gesellschaft formiert, spalten sich die Menschen in immer kleinere Identitätsgruppen. So erweisen sich reale Vereinzelung und die zunehmende „Identätisierung“  als die zwei Seiten einer Medaille . Die reaktionäre Formierung dieser Gesellschaft ist also kein abstraktes „politisches Problem“, sondern hat, wie gesagt, unmittelbare Auswirkung auf den alltäglichen Verstand, den Umgang der Menschen miteinander und ihre Fähigkeit, sich als solche zu organisieren. Die reaktionäre Formierung dieser Gesellschaft ist eben eine gesellschaftliche Formierung. Festzuhalten bleibt also: wer heute mit den Grundprinzipien kapitalistischer Vergesellschaftung auf nationaler Grundlage nicht bricht, ist dazu verurteilt, sie zu reproduzieren. Darüber hinaus lässt die Tatsache, dass sich die Naturverfallenheit der Gesellschaft verschärft, während die technische Entwicklung voranschreitet darauf schließen, dass die Möglichkeit „den Bann“ jemals noch „zu brechen“ (Adorno) zunehmend kleiner wird. Für die radikale Linke gibt es unter diesem Gesichtspunkt also wahrscheinlich nicht ewig Zeit.

Der deutsch-europäische Standort und die dazugehörige nationale Identität ist das hegemoniale Projekt des Kapitals und wo es keine, zumindest dem Anschein nach, ernst zunehmende radikale Opposition dagegen gibt, bleiben nur noch Marketing- und Sachfragen. Wer braucht schließlich Politik als die Verhandlung von unterschiedlichen Interessen, wenn es diese gar nicht mehr gibt?

Die reaktionäre Formierung des deutsch-europäischen Standortes braucht dabei weder einen Masterplan, noch irgendwelche Strippenzieher. Mit dem grundsätzlichen Einverständnis, der Identifikation mit dem deutsch-europäischen Standort kommt schon nach den Regeln der Logik mit Sicherheit die bereits erwähnte Abnahme menschlicher Gestaltungsfähigkeit und die zunehmende Unterordnung des Menschen unter die, durch Kapital und Nation vermittelte Naturverfallenheit dieser Gesellschaft heraus.

5. Was tun?

All dies ist nun kein Grund, in Hysterie, Panik oder auch Apathie zu verfallen, der formierte Standort ist kein Naturgesetz. Es muss aber darum gehen, die reale reaktionäre Entwicklung dieser Gesellschaft ernst zu nehmen, Gegenkonzepte zu entwickeln und für das zu sorgen, wofür eine radikale Linke ja eigentlich auch zuständig sein sollte: trouble an der Heimatfront.

Das heißt, wo dies möglich ist, die Naturverfallenheit dieser Gesellschaft anzugehen:

1.  Dafür ist eine differenzierte Sicht der gesellschaftlichen Prozesse notwendig. Es bringt folglich nichts, beispielsweise die Proteste gegen Sozialabbau auf „die“ Bewegung zu reduzieren. Sozialabbau ist auch nicht deswegen gut, weil ein Großteil der dagegen Protestierenden ideologischen Müll verbreitet. Darüber hinaus sollte sich die unsinnige Vorstellung von der radikalen Linken als „Elfenbeinturm“ erledigen. Wo die reaktionäre Entwicklung an den Fundamenten des Turms nagt darf die radikale Linke nicht tatenlos ihrer eigenen Abschaffung zusehen. Wo es möglich ist, als linksradikale Kraft wahrnehmbar zu sein, muss dies versucht werden. Ob mögliche Bündnisse also sinnvoll sind, muss am konkreten Fall zu entschieden werden. Deswegen war es übrigens auch richtig im Herbst letzten Jahres nach Nürnberg zu mobilisieren.    

2. Jenseits von Grabenkämpfen und identitärem Sektierertum muss die radikale Linke versuchen, öffentlich wahrnehmbar zu sein, die Zusammenhänge deutlich zu machen und in gesellschaftliche Diskussionen einzugreifen. Dafür sind auch anlassbezogene Bündnisse und Diskussionen mit linken Gruppen, die eventuell nicht voll auf der eigenen Linie liegen sinnvoll. Der Blick über den nationalen Tellerrand und die Auseinandersetzung mit linken Gruppen in anderen Länder ist nötig. Kriterium der eigenen Arbeit ist die Wirksamkeit in der Praxis. Die radikale Linke darf kein Papiertiger bleiben.

3. Um in diesem Sinne voran zu kommen, kommt die radikale Linke an der Frage der Organisierung nicht vorbei. Lokale Vernetzung und bundesweite Bündelung der „Vernünftigen“ ist eine Aufgabe, die für die in 1. Und 2. erwähnten Projekte unabdingbar ist.

Unmittelbare Perspektiven

Die erwähnten positiven Momente von bundesweiter Beteiligung und direktem Bezug von Aktionen und Gruppen aufeinander sind auf jeden Fall ausbaufähig. Dafür kann es nur hilfreich sein, verstärkt die Diskussion und Auseinandersetzung mit verschiedenen Konzepte zu suchen. Auf neue Entwicklungen mit alten Parolen zu antworten ist schließlich wohl kaum nach vorne führend.

Lokale Ansätze dafür sind durchaus erkennbar. Für den 15. Januar rief  die Antifa Landau unter dem Motto „Gegen Sozialabbau und Geschichtsrevisionismus – den deutsch-europäischen Standort sabotieren!“ zu einer Demonstration auf. Und nicht zuletzt gibt es inzwischen einen regionalen Organisierungsansatz in Hessen. Nach Monaten inhaltlicher Diskussion hat sich im Dezember das Bündnis antifaschistischer Gruppen Südhessen – kurz BASH – gegründet.  Dieses besteht bereits jetzt aus 6 linksradikalen Gruppen aus Bensheim, Darmstadt, Frankfurt, Hanau, dem Odenwald und dem Kreis Bergstraße.

Man darf also gespannt sein: Vielleicht wird ja doch noch alles gut.   

autonome antifa [f] im Winter 2005