03.10.04 – Flaschenpost an die Restvernunft


Identitäre Positionen helfen der radikalen Linken nicht weiter, nur die Negation des Bestehenden bietet eine Perspektive

Am Sonntag, den 3. Oktober 2004 demonstrierten knapp 300 Menschen aus dem ganzen Bundesgebiet gegen die Feierlichkeiten zum „Tag der deutschen Einheit“ in Erfurt. Eigentlich eine sehr vernünftige Sache, möchte man meinen. Doch dem war leider nicht so. Mit einem Aufruf, der vor allen Dingen einen Querschnitt „antideutscher“ Peinlichkeiten zu bieten hatte, einem Meer von Israel-, USA- und Großbritannien-Fahnen sowie zu guter letzt einer Ansprache der Bahamas-Redaktion an die gebannt lauschende Speerspitze der Weltrevolution, machte diese Demo vielmehr das aktuelle Dilemma der radikalen Linken sichtbar. Es zeigt, dass die Frage nach der erklärten „Solidarität mit Israel“ sich ebenso wenig wie die beabsichtigte „Kritik der deutschen Ideologie“ als Lackmustest für die Unterscheidung zwischen Wahnsinn und Vernunft eignet. Vielmehr, so scheint es uns zumindest, ist diese Unterscheidung da zu konstatieren, wo sie der Logik des Begriffes entsprechend auch verläuft – eben zwischen Wahnsinn und Vernunft.
Wir wollen im Folgenden ein paar abschließende Worte dazu verlieren; in der Hoffnung, dass diese Flaschenpost an die Restvernunft ihren Adressaten in der radikalen Linken noch findet. Im Sinne einer progressiven Kritik verzichten wir darauf, die „richtige“ Position fertig zu skizzieren – sie ergibt sich vielmehr als Nichtort aus der Kritik an den konträren, gleichwohl ebenso identitären
(1) Ansätzen innerhalb der Linken.

Das Ende der Identifikation

Es gibt inzwischen einige gute und viel schlechte Kritik am „antideutschen Ansatz“. Dabei gibt es so viel Richtiges zu finden, wie auch mindestens ein ebenso großer Teil der „Kritik“ am „antideutschen Projekt“ seinerseits allzu oft Zeugnis ablegt von den verschiedensten Ressentiments, Kränkungen und Dummheiten in dem „anderen“ Teil der radikalen Linken. Daher im folgenden kurz die Punkte, die uns als relevant und richtig erscheinen.
Einige „Antideutsche“ nutzen den erklärten Ausstieg aus der radikalen Linken als Einstiegsticket in die nationale Zivilgesellschaft. Einige Analysen der weltpolitischen Zusammenhänge von „antideutscher“ Seite sind derart hanebüchen, dass man sich eher an die Statements überengagierter LehramtsstudentInnen in universitären Einführungsveranstaltungen zu „Internationalen Beziehungen“ als an kritischen Materialismus o.ä. erinnert fühlt. Aus diesen „Analysen“ folgt darüber hinaus die völlige Ignoranz gesellschaftlicher Widersprüche,(2) was wiederum den unguten Eindruck erweckt, es hier mal wieder mit Leuten zu tun zu haben, denen es die Welt zu bunt treibt. Überhaupt glänzt ein Teil der „antideutschen Szene“ inzwischen damit, die komplexe gesellschaftliche Wirklichkeit und Ungleichzeitigkeit mit Schlagwörtern wie z.B. „Volksgemeinschaft“ abschließend erklären und abbilden zu wollen, anstatt sich damit auseinander zu setzen, dass Theorie – und sei sie noch so kritisch – immer nur eine Annäherung an die gesellschaftliche Wirklichkeit bringen kann. Auch wenn sich diese Erkenntnis in Bezug auf politische Aktion und Wahrnehmung von Außen wahrscheinlich nicht immer vermitteln lässt, als kritische Analyse reichen monokausale Erklärungen sicherlich nicht aus. Letzter und entscheidender Kritikpunkt, der vielleicht auch eine Erklärung für die bereits erwähnten „antideutschen“ Irrungen und Wirrungen(3) liefern kann, ist jedoch, dass Theoriebildung in einigen „antideutschen“ Kreisen nur noch als Mittel der Distinktion und Identitätskonstruktion genutzt wird. Wahrscheinlich rührt daher der Zwang, ständig seinen Verbalradikalismus unter Beweis stellen zu müssen. Und deswegen produziert man wohl auch Kitsch wie diese „Enthüllung“: „Was wären die Deutschen ohne .die bösen Nazis.? Richtig. Immer noch Deutsche.“(4) So, so – na dann ist ja alles klar.
Wir wollen uns mithin im folgenden auf jenen aktuellen Kern der „antideutschen Lehre“ beziehen, der – mit unterschiedlichen Abstufungen – die Identifikation mit Staaten, Institutionen und gesellschaftlichen Zuständen im „falschen Ganzen“ beschwört und damit der Beerdigung radikaler und tätiger Gesellschaftskritik Vorschub leistet. Eine radikale Linke, die es als ihre Aufgabe begreift, Geschichte machbar werden zu lassen, wird dagegen am Verlassen dieses Holzweges nicht vorbei kommen. Die radikale Linke, die up to date eine antinationale sein muss und damit in Deutschland – eigentlich banal – die von ihr zu betreibende Negation der Zustände auch eine antideutsche sein sollte, wird in diesem Sinne mit der aktuellen, identitären Ausprägung des „antideutschen Projektes“ Schluss machen müssen, anstatt immer wieder damit zu kokettieren. Das Neue entsteht auch hier aus der Negation des Alten oder es entsteht gar nicht.
Zu diesem Zwecke sei den „Meistern“ selbst das Wort erteilt. Allerdings sprechen sie im Folgenden zu uns aus ihren längst vergangenen, besseren Tagen, als – so ist man versucht, zu mutmaßen – man sich in der Bahamas-Redaktion noch strenger an die Klassiker von Horkheimer, Adorno, Krahl und letztlich Pohrt hielt und folglich nicht ganz falsch liegen konnte.
Damals jedenfalls wusste Justus Wertmüller noch: „Was Karl Marx geschrieben hat, war eine Kritik der politischen Ökonomie“, keine „positive Politökonomie“(5).Wer das nicht sehe, um sich eine praktizistische Handlungsanleitung plus passende, wie auch immer „widerständige“ Identität im falschen Ganzen basteln zu können, schmiede eine der „bürgerlichen Soziologie ebenbürtige Lehre“(6). Damit bleibe „für antideutsche Nicht-Kommunisten, wollen sie nicht die Vorstellung vom Volkscharakter bemühen […] nur eins übrig: das vernünftige Interesse, dessen Vorhandensein sie bei den Deutschen generell bestreiten, zu exterritorialisieren, d.h. es den anderen westlichen Demokratien fraglos zuzusprechen. […] Der Bürger westlicher Demokratie wird, völlig unberechtigt, als resistent gegen volksgemeinschaftlichen Wahn erklärt, die Zivilisation als Bollwerk gegen die Barbarei anstatt als ihre Voraussetzung begriffen. Der Vorstellung, bürgerlich-kapitalistische Vergesellschaftung sei .an sich. identisch mit Vernunft und rationaler Interessenverfolgung“(7), bleiben sie verhaftet. „Wer mit dem Befreiungsschlag gegen den ML“ und die verständnisvollen Volksfront-Konzepte „den Kommunismus miterledigt, […] muss die Untaten des deutschen Volkes aus jedem Kritikzusammenhang herausreißen und tautologisch auf deutsche Besonderheiten beharren. Weil sie die Voraussetzungen des Antisemitismus nicht in der bürgerlichen Zivilisation erblicken können, landen sie in der bürgerlichen Sackgasse.“(8) Und weiter: „Darin, dass wer von Auschwitz spricht, zuvörderst von Deutschland wird sprechen müssen, waren und sind sich alle einig. Doch obwohl Deutschland einen manchmal so angrinst, kann es nicht sein, dass dieser Staat, seine Bevölkerung, seine ökonomische Struktur, noch nicht mal seine Geschichte aus der Welt gefallen ist.“(9) Oder frei nach Pohrt: Die Normalität ist der Ort, wo die Wahnsinnigen produziert werden. Und als ob er in die Zukunft hätte blicken und schon damals sehen können, dass das kein gutes Ende mit den „Antideutschen“ nehmen würde, spricht Justus W. leise resignierend: „Dabei wollte es einige Jahre so scheinen, als hätte der antideutsche Aufbruch den ideologischen Müll von zwanzig Bewegungsjahren so durcheinandergewirbelt, dass endlich eine kommunistische Kritik der Gesellschaft möglich werden würde. Die antinationale Kritik ist schließlich die Grundvoraussetzung für Kommunismus. Die antideutsche Konkretion der antinationalen Kritik war die Chance, die Kumpanei […] mit dem, als revolutionärem Subjekt vorgestellten Volk endgültig zu beenden […], als Ausgangspunkt wie notwendiges Moment einer Kritik von Kapital und Staat jenseits von Parteikommunismus und ML wurde der Antinationalismus jedoch nur von den wenigsten begriffen.“(10) Statt dessen, so konstatiert Joachim Bruhn richtig, „unterwarf diese Intelligenz Alles einer radikalen Kritik, nur nicht sich selbst, nicht ihre Erkenntnisweise, nicht ihre Denkform, nicht ihre schon geschichtsnotorische Neigung zur Rationalisierung und Ideologieproduktion.“(11) Deswegen, so wieder Wertmüller: „Wie der […] Showdown zeigt, darf inzwischen gewählt werden zwischen Ausstieg oder Rückzug in den ML.“ But history never ends, daher: „Statt ostentativem Bekennertum und gedankenschwerer tiefschürfender Selbstkritik ist also eine materialistische Kritik […] gefragt. […] Wer das unterlässt, wird weiterhin die Welt als eine Ansammlung vieler großer Übel begreifen müssen und sie je nach Präferenz eines derselben konkretistisch als sein Objekt küren müssen. Unter diesen Voraussetzungen verkommt selbst der Verweis auf Deutschland als das schlimmste Übel zur müden Pose, die sich ein bisschen Kraft und Saft durch den Verweis auf die Aktivitäten“(12) amerikanischer Neokonservativer „borgt und lyrischen Kitsch fabriziert wie diesen:“(13) „Was wären die Deutschen ohne .die bösen Nazis.? Richtig. Immer noch Deutsche.“(14) Dagegen hielt auch ein weiteres Mitglied der Bahamas-Redaktion richtig fest: „Der deutsche Sonderweg ist keine Abweichung von der kapitalistischen Normalität, sondern deren äußerste Konsequenz. […] Ein Ende der durchs Kapital vermittelten Naturverfallenheit von Gesellschaft ist nur noch vom .Verein freier Menschen. zu erwarten – vom Kommunismus.“(15) Also noch mal: Das Ende der Identifikation wäre ein kritischer Standpunkt, der sich nicht gemein macht – weder mit sich noch mit dieser Gesellschaft und anführt, was jeweils nicht dafür spricht. Denn – remember – das neue entsteht aus der Negation des Alten oder eben gar nicht.(16) Oder um es, bevor wir es vergessen, mit dem obligatorischen Adorno-Zitat zu sagen: „Identität ist die Urfom von Ideologie. […] Darum ist Ideologiekritik […] zentral: Kritik des konstitutiven Bewusstseins selbst.“(17) Und: „Marx hatte den historischen Materialismus gegen den vulgärmetaphysischen pointiert. […] Materialismus ist seitdem keine durch den Entschluss zu beziehende Gegenposition mehr, sondern der Inbegriff der Kritik am Idealismus und an der Realität, für welche der Idealismus votiert, indem er sie verzerrt.“(18) Dem haben auch wir nichts mehr hinzuzufügen.

Doch wer A sagt …

… muss auch B sagen. Gerade hierzulande. Und gerade bei dem derzeitigen Zustand der radikalen Linken. Denn wer heute „Antideutsche“ kritisiert – und sei es noch so differenziert -, der kann, ja der muss sich fast sicher sein, dass er Applaus aus der falschen Ecke erntet. Aus einer Ecke, in der man das, was heute als „antideutsche Position“ gehandelt wird, nicht kritisiert, sondern mit Freude „Antideutschen-bashing“(19) betreibt. Wo Bahamas plus heutigem Anhang wohl nur der willkommene Anlass waren und sind, überhaupt jede Kritik an der Traditionslinken, an platten Bewegungs-Parolen und vorgeblich linken Positionen, die oft bloße Ressentiments waren – also Kritik an sich -, abzubügeln.(20)
Dabei muss man nicht auf Internationalismus-Seminare gehen um festzustellen, dass dieser Umgang mit Kritik und das zwanghafte Festhalten an alten Politikkonzepten und Gesellschaftsanalysen immer noch weit verbreitet ist. Auch wenn die Erkenntnis, über den nationalen Tellerrand zu gucken, sich global zu vernetzen und austauschen zu müssen, sicherlich eine ist, die für die radikale Linke zentral sein sollte: Es ist schlichtweg eine Unverschämtheit, wenn Linke, die vor sich den Anspruch her tragen, emanzipatorisch und antifaschistisch zu sein, meinen, trotz Auschwitz und kritischer Theorie einfach so weiter machen zu können wie bisher. Angesichts eines sich barbarisierenden Kapitalismus im Weltmaßstab ist das Festhalten am „nationalen Befreiungskampf“ und plattem „Antiimperialismus“ schließlich mehr als fragwürdig. „Antiimperialismus“ und „nationaler Befreiungskampf“ waren Konzepte, die nur innerhalb einer bestimmten historischen Epoche als solche überhaupt hätten einen Zweck haben können. Doch ohne den „großen Bruder Sowjetunion“ und die „Perspektive“, dass ein Land nach dem anderen, wie auch immer „sozialistisch“ werden könnte, macht „Antiimperialismus“ sicherlich keinen Sinn. Schon empirisch lässt sich sehen, dass der „emanzipatorische Gehalt“ der „nationalen Befreiungskämpfe“ seit Jahren abnimmt. „Antiimperialismus“ meint heute, wo es keine ernst zunehmende progressive Bewegung gibt, die über den Kapitalismus hinaus will, meist nur noch die Agitation gegen die „Vormachtstellung von USA/Israel“ und wird auch – bei allen Unterschieden – von rot-grünen Think-Tanks in „Old Europe“ bis zu den Taliban so verstanden. Wer diese politische Großwetterlage nicht zur Kenntnis nimmt und weiter einfach „Gegen den Imperialismus“ wettert, muss sich zu Recht vorwerfen lassen, vom Kapitalismus nicht reden zu wollen. Nichts hilft die Präsentation von Feindbildern zum Verständnis der komplexen Vorgänge der kapitalistischen Weltordnung. Denn, dass es im globalen Kapitalismus Sieger und Besiegte gibt und doch die Verlierer keineswegs „an sich“ die guten sein müssen, ist banal. Auch lässt sich nicht feststellen, dass die aktuellen „antiimperialistischen Kämpfe“ konkrete Verbesserungen für die einzelnen Menschen bringen würden – wer von Völkern und Nationen redet, der schweigt schließlich vom einzelnen Menschen und so neu ist das auch nicht.(21) Sicherlich am dümmsten ist da noch der Vorwurf des „Eurozentrismus“ gegen jene, die die Frechheit besitzen, die Zumutungen von Ursprünglichkeit, Fortschrittsfeindlichkeit und Tradition in den so genannten Befreiungskämpfen zu kritisieren. Besser kann man schließlich nicht offenbaren, dass einem die Anstrengungen, noch das universale Versprechen des Humanismus auf den Begriff zu bringen, so zuwider sind, dass man es denen, die noch nicht mal daran denken können, erst recht nicht gönnen will. Pohrt hatte recht, als er feststellte, dass wer die Chancen der Rechtsradikalen einschätzen wolle, sich nur anschauen müsse, was die Linken zu sagen hätten.
Aus all diesem folgt nun bestimmt nicht, dass die USA und ihre Verbündeten das Wohlergehen der Menschen auf der Welt im Auge hätten. Vielmehr bedeutet es in der Konsequenz, dass „Internationalismus in der neuen Weltordnung“ mehr sein muss als die Wiederauflage der Version aus der Alten und die Affirmation einfacher „Unterdrücker vs. Unterdrückte“-Ideologie. Eine progressive, radikale Linke muss dagegen, insbesondere im Angesicht der Formierung des deutsch-europäischen Standortes, Stellung beziehen und Widersprüche aufmachen, anstatt Kollektive zu beschwören. Zumindest sollte zur Kenntnis genommen werden, dass die Befreiung der Unterdrückten heute oftmals gegen die Unterdrückten gefordert werden muss.
Wer sich dem verweigert und wem außer dem reflexhaften Vorwurf „Polemik!“ nichts zu dem Hinweis einfällt, dass der bekannteste Antiimperialist in Deutschland und Befürworter einer echten „Volksfront“ Horst Mahler ist, hat wahrscheinlich etwas zu verbergen.(22) Zu vermuten ist, dass es ihm/ihr so wenig um das Wohlergehen der „Unterdrückten im Trikont“ oder die Weltrevolution geht wie dem Großteil der Friedensbewegung um „den Frieden“. Stattdessen liegt der Verdacht nahe, dass es darum geht, sich eine widerständige Identität zu schaffen, mit der man sich guten Gewissens auf die Seite der Guten (also der Unterdrückten, der kleinen flauschigen Pelztierchen, dem Regenwald, etc.) stellen kann. Oder gar – das ist zumindest nicht auszuschließen -, dass es darum geht, die „Authentizität“, den „Volksbezug“ und die Folklore, die man sich als Linker in Deutschland (noch) nicht öffentlich leisten kann, eben woanders durchzudeklinieren. Wer aber einfach ein schlechtes Gewissen hat, weil es ihm durch den Zufall der Geburt eben besser geht als der großen Masse der Menschheit woanders, der sollte sich das eingestehen und damit umgehen, anstatt diese Regung zu ideologisieren und ein verwesendes Imperialismus-Konzept hochleben zu lassen. Jedenfalls schließt sich an diesem Punkt der Kreis zu den angeblichen Erzfeinden, den „Antideutschen“: Anstatt Widersprüche aufzumachen und die nur allzu gut funktionierende ideologische Vermittlung der Zwangsverhältnisse zu sabotieren, schaffen sich die „Antiimps“, bzw. „Internationalisten“ selbst eine weitere Identität nebst passendem Identifikationsschema. Darüber hinaus ist der Versuch, die Leute ständig da abholen zu wollen, wo sie stehen, oft nicht mehr als die Hintertür, um sich damit abzufinden, wie es ist. Wem an den Menschen, wie sie sein könnten, etwas liegt, der muss den Menschen, wie sie sind, in fast allen Punkten widersprechen. Spontanen Regungen und „natürlichen Reflexen“, auch den eigenen, ist zu misstrauen. Denn das Gegenteil von Gut ist gut gemeint.
Nachdem wir nun das Publikum auf beiden Seiten der Manege ordentlich beschimpft haben, bleibt nur noch die Frage wie es weiter gehen könnte.

Also die „neue Mitte“ der radikalen Linken?

Eine vernünftige Position für die radikale Linke wäre nun aber keine, die einfach die Aspekte, die sowohl bei der einen, wie bei der anderen „Seite“ irgendwie richtig sind, vereint.
Denn auch ein blindes Huhn trinkt mal ein´ Korn und so dumm, nicht zu merken, dass „irgendwas nicht stimmt“, sind nicht mal die Nazis. Es kann also nicht darum gehen, zwischen zwei sich gegenüberstehenden „Extrempositionen“ die „goldene Mitte“ zu finden. Zwei falsche Positionen werden nicht dadurch richtig, dass man sie einfach nur kombiniert. Vielmehr ist es gerade die Negation jedweder Ideologisierung und Identifikation im hier und jetzt, die eine darüber hinausgehende vernünftige Position ergeben kann. Kein positiver Bezugspunkt, sondern bestimmte Negation vom Standpunkt der Kritik, die nur sagen kann, was jeweils nicht dafür spricht. „Statt neuerlich identitäre Konzepte zu bedienen […] von der aus die Form und das Ziel gesellschaftlicher Auseinandersetzung schon definiert sind, rufen wir auf zu einem Kampf gegen die Grundlagen des Kapitalismus als solche – das soll unserer Bezugspunkt sein und (so weit das denkbar ist) eine nicht-identitäre Definition des politischen Projektes.“(23) Es wäre in diesem Sinne nötig, sich einerseits abzuspalten und andererseits zusammenzufinden. Spalten wäre die Ansage für all jene, die bisher mit den Hardlinern von dem einen wie dem anderen „Lager“ – also „antideutsch“ wie „antiimp“ – immer noch gemeinsame Sache gemacht haben. Es wäre schon alleine darum angebracht, um überhaupt erkennbar zu werden. Zusammenzufinden wäre gleich in zweifacher Hinsicht nötig: Einmal, um als progressive Fraktion handlungsfähig zu werden und gegen die reaktionäre Formierung dieser Gesellschaft im Besonderen und den Kapitalismus im Allgemeinen auch über den lokalen Rahmen hinaus zu Potte zu kommen. Zum Zweiten ist eine punktuelle Zusammenarbeit mit allen Linken(24) zu suchen, mit denen dies vernünftig möglich ist. Kriterium linksradikaler Arbeit ist schließlich die Wirksamkeit in der Praxis. Aufgabe wäre es also, frei nach Gramsci, sich von dem Irrenhaus – das momentan die radikale Linke zu sein scheint – abzuheben, um wieder zusammenarbeiten zu können und voran zu kommen. Die Basis dafür ist, obwohl es erst einmal nicht so scheinen mag, nicht allzu klein. Man sollte sich hierfür, um ein letztes Mal die Bahamas zu zitieren, wohl an jene Leuten hier und da halten, „die nicht von blasiertem Theoriedünkel umnachtet sind und die es keineswegs für unter ihrer Würde halten, sich mit der Staatsmacht zu balgen und die vielleicht deshalb den Adorno mit kritischem Gewinn lesen. Leute, denen nach der autoritären Sekte oder dem autoritären Szene-Ghetto nicht der Sinn zu stehen scheint und die wissen, dass man sich Träume, […] anders als es sich mancher in seiner vorzivilisatorischen Wahnwelt vorstellt, sehr wohl kaufen kann“.(25) Und die, trotz oder gerade deswegen, Angreifen im konkreten Fall für wichtiger als Angeben halten. „Diejenigen also, die auch dann noch wissen, dass sie ums Leben betrogen sind, wenn es für einen VW-Golf und vier Wochen Adria für alle reichen sollte.“(26) Und, die dementsprechend weiter „nach dem dritten Weg suchen, den es nicht gibt“(27) – eben Antifa(28), statt nur dabei.

Wer nicht für uns ist, ist gegen uns

Eure autonome antifa [f]

Fußnoten:

(1) Zugegebenermaßen idealtypischen.
(2) Etwa die Stilisierung der USA zum Wegbereiter des Kommunismus, trotz (oder wegen?) des erstarkenden christlichen Fundamentalismus, dem Abbau der Grundrechte, etc.
(3) Weitere Beispiele: 1. Der, wohl aus dem VS-Bericht abgeschaute, bildungsbürgerliche Habitus, der seinen Ausdruck darin findet, Rechtsschreibfehler der „Gegenseite“ stets als „Fehler im Original (!)“ zu betonen. Welches Argument gegen missliebige Positionen ist die Tatsache, dass diese auch noch falsch geschrieben sind? 2. Das ganze uncoole Gehabe, das seinen deutlichsten Ausdruck in dem Zwang findet, seine Loyalität zum eigenen Verein durch besondere Ernsthaftigkeit unter Beweis stellen zu müssen. 3. Die um sich selbst kreisenden Debatten, die durch ihren bekenntnishaften Charakter nur immer unter Beweis stellen, dass sich auch die „Antideutschen“ nicht wesentlich von dem Rest der Linken unterscheiden: Man ödet sich gegenseitig an und versucht das dadurch zu kaschieren, dass man die anderen anzickt, denen man vorwirft noch bescheuerter als man selbst zu sein. Doch wem es so geht, der sollte sich einen neuen Freundeskreis suchen, in eine andere Stadt ziehen, zum Therapeuten gehen oder stimulierende Drogen nehmen – jedenfalls nicht so tun, als ob es dabei um die Revolution o.ä. ginge. Die eingeschränkte Fähigkeit zu einer realistischen Selbstwahrnehmung: siehe auch „Basis Banalitäten Reloaded“ – der lobenswerte, doch etwas hilflose Versuch des BgR Leipzig, der antideutschen Gemeinde ob der mit falsch Aussagen bestückten Erklärung „Basis Banalitäten“ eine realistische Einschätzung der Ereignisse und Übergriffe zu geben.
(4) Bad Weather, Antifa 2000 – Quite a Feeling, Quite a Relief, Quite a Mess, in: Phase 2.14, Dezember 2004.
(5) Justus Wertmüller, Abschied vom Kommunismus – Ein antideutscher Showdown, in: Bahamas 22, Frühjahr 1998.
(6) Ebd.
(7) Ebd.
(8) Ebd.
(9) Ebd.
(10) Ebd.
(11) Joachim Bruhn, Karl Marx und der Materialismus, in: Bahamas 33, Herbst 2000.
(12) Ebd.
(13) Ebd.
(14) Bad Weather, Antifa 2000.
(15) Uli Krug, Ewiges Rätsel Auschwitz? In: Bahamas 22, Frühjahr 1998.
(16) Vgl. Wolfgang Pohrt, FAQ, Berlin 2004, 64: „Wenn linke Schreiber den Frieden oder den Krieg befürworten zu müssen meinen, leiden sie stets unter Realitätsverlust und Aufgeblasenheit. […] Man soll nicht mit Leuten streiten, bei denen nicht mal das Gegenteil von dem, was sie sagen, richtig ist.“
(17) Theodor W. Adorno, Negative Dialektik, Frankfurt a.M. 1970, 151.
(18) Ebd., 197.
(19) Was hin und wieder durchaus im Sinne des Wortes als gewalttätiges Vorgehen zu verstehen ist.
(20) Wenn wir also im Verlauf des Textes uns länger über „die Antideutschen“ ausgelassen haben, so liegt das daran, dass man von dem Aufbruch Anfang der neunziger mehr hätte erwarten können.
(21) Es sei denn, man hält die Ermordung von Homosexuellen, die Unterdrückung durch eine nationale Bewegung, etc. für Fortschritte.
(22) Gleiches gilt für jene Experten, die zwar jedes Opfer der US-Bomber betrauern wollen, aber dann „irgendwie Verständnis“ dafür haben, dass sich Selbstmord-Attentäter in Schulbussen in die Luft sprengen oder den Hinweis darauf plötzlich „moralisch“ finden.
(23) Kritik & Praxis Berlin, Deutschland verraten – Kapitalismus abschaffen. Aufruf für die Demonstration am 3. Oktober 2003.
(24) Also auch den Hardlinern, insofern das möglich und konkret sinnvoll ist.
(25) Vgl., Editorial, in: Bahamas 35, Sommer 2001.
(26) Vgl. Bahamas 31, Frühjahr 2000, 50.
(27) Ebd.
(28) Im Gegensatz zu den Verfassern der Einleitung zum Schwerpunkt der Phase 2.14 halten wir die Einschätzung, dass die Antifa Bewegung „nicht mehr existiert“, für falsch. Genauso wenig wie radikale Kritik lässt sich die dazugehörige Praxis am Reißbrett entwerfen. Auch, wenn es sicherlich nicht die Ausmaße „von früher“ hat. Wenn es denn überhaupt einen gemeinsamen, bundesweiten Bezugsrahmen für die organisierungswillige radikale Linke gibt, so ist dies in der Provinz wie in den Städten immer noch das Konzept Antifa. Die notwendige Weiterentwicklung und Kritik der Antifa kann nicht zwischen einigen wenigen Gruppen ausgetragen werden, sondern müsste in diesem Sinne in der Breite diskutiert werden, um wirklich praktisch zu werden. Ob einem das gefällt oder nicht.