18.05.06 – Für einen anständigen Aufstand!


 

Anbei der Aufruf der antifa[f] zu den aktuellen Studentenprotesten, der auch auf der letzten VV in
Frankfurt/Main als Redebeitrag gehalten wurde.

Liebe Komilitoninnen und Komilitonen,

wir sind in Gefahr. Im Fadenkreuz. Die Hochschulen sollen immer mehr an die „wirtschaftlichen
Erfordernisse“ im Standort Deutschland angepasst werden. Studiengebühren sorgen dabei für die nötige Auslese und den entsprechenden Leistungsdruck in diesem Programm der nationalen Mobilmachung. Für kritische Wissenschaft bleibt da kein Platz – es geht nicht um Wahrheit, es geht um „Effizienz“. Wir sollen den „Gürtel enger schnallen“. Früher hieß der Standort Vaterland, aber es ging um dasselbe. „Du bist Deutschland“ an allen Ecken und Enden. Wir sollen uns auch noch identifizieren mit dem, was Nation und Kapital von uns wollen. Überleben ist das, was der Kapitalismus uns noch zu bieten hat. Ein paar kommen durch – der Rest bleibt liegen. Adam Smith sprach von einer „unsichtbaren Hand des Marktes“, die die Welt von alleine regle wenn man
sie nur lässt. Und das tut sie. Aber diese Hand hängt uns am Hals und würgt.

Auf dem globalen Markt gibt es nicht genug Platz für uns alle. In der sogenannten Dritten Welt ist das kein Geheimnis. Da ist die Hölle schon seit Jahrzehnten real. Deswegen interessiert es auch niemand, wenn mal wieder 500 Menschen in Nigeria bei der Explosion einer Öl-Pipeline verbrennen oder einfach verhungern. Der Leistungsdruck macht uns fertig, doch anderen wird
er gar nicht erst gestellt. Aber auch hier geht es nun damit los sich der Überflüssigen zu entledigen. Und wir gehören dazu.

Eine Zeitlang hat man sich den „sozialen Frieden“ erkauft. Eine Zeitlang bekamen wir als „Belohnung“ – darauf verzichtet zu haben, Subjekte unserer eigenen Geschichte zu werden – die schlechte Entschädigung, Objekte des Sozialstaats zu sein. Auch wenn das im Vergleich zu Hartz IV noch vergleichsweise locker war. Passivität haben wir so jedenfalls jahrelang eingeübt. Wir haben uns verarschen lassen. Doch selbst das braucht es nun nicht mehr. Jetzt geht es rund. Die offene Kriegserklärung kommt dabei auf Samtpfoten: „Wir haben“, sagt der Chef des Nestle-Konzerns, „heute einen gewissen Prozentsatz Wohlstandsmüll in unserer Gesellschaft.“ Und was man mit Menschenmüll macht, weiß man gerade in Deutschland nur zu gut. Wer sich widersetzt, wird schon noch merken, wer das Gewaltmonopol auf seiner Seite hat. Viele wissen das und wehren sich erst gar nicht. Zu tief sitzt bei uns allen der autoritäre Respekt vor der Uniform, zu tief der erzwungene Wille zum konstruktiven „Mitmachen“. Vielleicht haben sich die Proteste 2003 deshalb weitgehend auf Bittstellerei beschränkt. An der Regierung wusste man es schließlich schon damals besser. Es geht nicht um Recht – es geht um Macht. Deshalb brechen Koch und Co. auch jedes Gesetz und jede Verfassung, wenn sie im Weg steht. Wenn aber Studierende die Frechheit haben, die Zerstörung ihrer Lebensentwürfe nicht mehr hinzunehmen und ein paar Mülltonnen anzünden – dann ist das
Geschrei groß. Als wäre es keine Gewalt, wenn immer mehr Menschen aus der Gesellschaft ausgeschlossen werden.

Goethe hat einmal gesagt, vor die Wahl gestellt zwischen Unrecht und Unordnung entscheidet man sich in Deutschland für das Unrecht. Das scheint auch heute noch viel zu verbreitet zu sein. Weit mehr als den Protest gegen sogenannte „amerikanische Verhältnisse“, wie auf einem Transparent gefordert wurde, brauchen wir also die „Kritik der deutschen Zustände“ (Karl Marx). Anderswo,da wo man weniger von Gemeinschaft und Gemeinwohl und mehr von (Klassen-)Interessen spricht,
da sieht das anders aus. Da weiß man besser, dass soziale Rechte gegen den Staat erkämpft und nicht erbettelt werden. In Frankreich haben die Studierenden der Regierung mit einer Vielzahl an den Rand der Gesellschaft Gedrängter eine schallende Niederlage beigebracht. Dort hat man,
im Gegensatz zu Deutschland, endlich den Respekt vor der eigenen Ohnmacht verloren.

Wenn wir Erfolg haben wollen, müssen wir uns – Erstens – ein Beispiel an Frankreich nehmen. Uns zusammenschließen mit all jenen, deren Perspektiven genauso eingemacht werden wie unsrere. Mit Migranten, Arbeitslosen, Schülern und allen anderen. Wir dürfen – Zweitens – die herrschenden Lügen nicht mehr glauben: Sie reden von Sachzwängen als würde die Gesellschaft nicht von Menschen gemacht. Aber diese Gesellschaft wird von uns gemacht und kann von uns verändert werden. Wir dürfen uns – Drittens – nicht spalten lassen: Weder in reiche und arme Studierende, noch in Deutsche und Migranten und auch nicht in Friedliche und Militante. Am gefährlichsten ist nicht der Knüppel der Polizei, sondern die Polizei in unseren Köpfen. Nur eine vielfältige und breite Bewegung, die der Regierung weh tut, kann Erfolg haben. Dafür braucht es nicht nur Aufklärung und Diskussion, sondern vor allem auch Blockaden, Barrikaden und Widerstand. – Wir haben kein Interesse an einer Auseinandersetzung mit der Polizei, aber es liegt an ihr, ob sie sich zum Büttel
einer reaktionären Regierung macht. Wir müssen – Viertens – unseren Aktionsradius vergößern. Wir brauchen den Ausnahmezustand auf den Straßen. Wir brauchen direkte Proteste bei Deutscher
Bank und kfw, die von den Studiengebühren profitieren wollen. Wir brauchen entschlossenen Widerstand bei Auftritten von Koch, Corts und den anderen Arschlöchern. Und – wir dürfen uns keine Illusionen machen. Die CDU wird versuchen, die Geschichte auszusitzen. Wenn das nicht hilft, wird sich die Konfrontation mit ihr wohl oder übel zuspitzen. Aber wir dürfen uns auch keine
Illusionen über unsere eigene Stärke machen. Wenn wir zusammenhalten und uns nicht spalten lassen sind wir stark. Stärker als Sie.

Dazu können wir nicht warten bis andere etwas machen. Wir müssen uns selbst zusammenschließen, informieren, diskutieren – und handeln. Wenn wir es nicht tun, wird es niemand tun. Und wann, wenn nicht jetzt? Die Landesregierung sagt, die Proteste von letzter Woche waren kontraproduktiv. Wenn das kein gutes Zeichen ist. Wir sagen, die Proteste von letzter Woche
waren nur der Anfang. Wir sind auf dem richtigen Weg.

Denn: Wir sind nicht Deutschland und die Regierung ist nicht unser Freund.

Für französische Verhältnisse – für einen anständigen Aufstand!