Staat! Konkurrenz! Weltmarkt! Konkurrenz! Fußnote! Konkurrenz! Nation! Konkurrenz! Scheisse! Konkurrenz! Vor über einem Jahr hat das …ums Ganze Bündnis eine erste Grundlagenbroschüre veröffentlicht, zur Bedeutung des Staats im Kapitalismus: „Staat, Weltmarkt und die Herrschaft der falschen Freiheit“. Der politische Anspruch dahinter war seit dem G8-Gipfel in Heiligendamm, linksradikale Kritik in die Praxis von Demonstrationen und Debatten umzusetzen – ohne liebgewonnene (post)linke Identitäten und Feindbilder, wahrnehmbar und vor allem kontinuierlich. Dementsprechend ging es nach vielen Aktionen, Texten und Veranstaltungen mit der Staatsbroschüre um eine erste inhaltliche Positionsbestimmung.
Es folgte Kritik aus verschiedenen Spektren; solidarisch, konstruktiv und empört. Bei Einigem gehen wir dabei mit. Etwa dabei, dass bei unserem Schlaglicht auf eine grundsätzliche Logik von Staat und Kapital die Subjekte, die diese Logik (mit)machen, oft unterbelichtet blieben. Insofern wurde auch die Tatsache, dass Menschen durch mehr als durch ihre Konkurrenz in Beziehung zueinander stehen, oft zu wenig verfolgt.
Vieles weisen wir aber auch zurück: Denn oft wurde unsere allgemeine Perspektive auf staatliche Logik im Kapitalismus – und der dementsprechende Antinationalismus – als verallgemeinernd verstanden und so als vereinfachtes Denken in Haupt- und Nebenwidersprüchen kritisiert. Aber diese Reaktion ist unverhältnismäßig und geht unter anderem an der Staatsbroschüre vorbei.
Dazu hat TopBerlin den Text „Zurück in die Politik“ veröffentlicht. Damit ist natürlich noch nicht alles gesagt. Der Text geht nur auf wenige Vorwürfe an die Staatsbroschüre explizit ein; er ist nicht als Replik auf bestimmte Kritik, nicht als Antwort auf alle offene Fragen und Streitpunkte (kommt noch), sondern als einfache Reformulierung der Ausgangsposition zu verstehen.
Doch genau das erschien auch uns in Frankfurt sinnvoll, und deshalb haben wir den Text aufgegriffen und hoffen, vielleicht noch einmal eine Diskussion anzustoßen. Einige Aspekte würden auch wir als [f] dabei anders formulieren – aber man muss ja auch nicht immer zu allem einen neuen Extratext schreiben. Im besten Fall entwickelt sich statt dessen ja eine unvoreingenommene Debatte über linke Erkenntnisse und Möglichkeiten. Gelegenheiten dafür gibt hier ja bald genug.
ZURÜCK IN DIE POLITIK!
Antinationale Kritik ist die Wahrheit des antideutschen Gefühls.
Doch es kommt darauf an, sie praktisch zu machen.
In einer bemerkenswerten Abfolge nationaler Jubiläen und Gedenktage hat Deutschland in den vergangenen Jahren sein staatspolitisches Selbstverständnis transformiert. Parallel zur offiziellen Anerkennung des Holocaust als singulärem Menschheitsverbrechen und »Zivilisationsbruch« (Thierse) (i) der deutschen Nation wurde eine historisch begründete Opferidentität kultiviert, etwa in Narrativen um alliierten »Bombenterror« oder um »Vertreibungsverbrechen« am deutschen Volk. Seither sieht sich Deutschland als moralisch rehabilitiertes Vollmitglied der Staatengemeinschaft, das seine Interessen aus historischer Verantwortung heraus »selbstbewusst« durchsetzt. Bei den Staatsfeiern zu 60 Jahren Grundgesetz und 20 Jahren Mauerfall 2009 konnte sich die Berliner Republik bereits als gewachsene Demokratie mit revolutionären Wurzeln inszenieren, Stichwort »friedliche Revolution«.
Als politische Gruppe in Berlin und Teil des umsGanze!-Bündnisses haben wir diese Staatsfeiertage zur linksradikalen Gegenmobilisierung genutzt. Im Rahmen der antinationalen Kampagne von umsGanze! zum »Supergedenkjahr« 2009 haben wir in Berlin eine Bündnisdemo gegen das Grundgesetzjubiläum initiiert. Zum 20. Jahrestag des Mauerfalls haben wir ebenfalls die Gegendemo angemeldet und organisatorisch getragen. Unsere GenossInnen von der Antifa [F] haben im Rhein-Main-Gebiet ein sozialrevolutionäres und antinationales Krisenbündnis initiiert. (ii) 2010 haben wir uns u.a. stark im Bremer Bündnis gegen den Tag der Deutsche Einheit engagiert.
Das Bremer Bündnismotto – »Kein Tag für die Nation! Kein Tag für Deutschland!« – wirft ein Schlaglicht auf wiederkehrende Szenekonflikte bei solchen Anlässen. Denn es scheut beredet jede Festlegung, ob die Kritik an Deutschland nun »antinational« oder »antideutsch« zuzuspitzen sei. Die politische Bedeutsamkeit dieser Frage ist für außen Stehende schwer verständlich. Allgemein geht es darum, ob dem deutschen Staatsprogramm eine reaktionäre »Spezifik« innewohne, eine irgendwie »strukturell« begründete Tendenz oder Anfälligkeit für autoritären Kollektivismus. Vor dem Hintergrund der skizzierten Transformation des staatsoffiziellen Nationalismus ist genau das die antideutsche Perspektive. In ihr erscheint etwa die aktuelle »Integrationsdebatte« als Ausdruck einer »postfaschistischen« bzw. »postnazistischen« Disposition mit völkischen Reflexen.
TOP Berlin und umsGanze! haben sich gegen solche Deutungen positioniert. Nicht weil wir eine spezifische Ausformung des hiesigen Nationalismus rundweg bestreiten würden, sondern weil wir die theoretischen Begründungsmuster und politischen Konsequenzen des antideutschen Spektrums für falsch halten. Die aktuell bedeutsamen politischen und ideologischen Prozesse in Deutschland können wesentlich im Rahmen einer allgemeiner ausgelegten kritischen Theorie der Nation entschlüsselt werden. Das umsGanze!-Bündnis hat diese Position u.a. in seiner Staatsbroschüre skizziert, um die sich 2009/2010 ebenfalls eine breite Debatte entwickelt hat. (iii) Nach mehreren Podiumsdiskussionen mit unseren KritikerInnen u.a. in Köln, Bremen, Hannover und Berlin möchten wir unsere Position nun noch einmal zusammenfassen. Ermutigt sehen wir uns durch einen bislang eher konstruktiven Diskussionsverlauf, in dem unsere Position gleichwohl beständig falsch kolportiert wird.
Wir wollen diesen Klärungsversuch mit einer Diskussion um politische Praxis verbinden. Kritik der Nation ist kein beliebiger Spartendiskurs zwischen Freiraumbewegung und Castor-Alarm, und schon gar keine akademische Schrulle, sondern eine politische Querschnittsaufgabe der radikalen Linken. Denn die Identifikation mit dem Herrschaftsapparat Nation wurzelt als ideologischer Reflex und »objektive Gedankenform« (Marx) in den grundlegenden ökonomischen und institutionellen Beziehungen der bürgerlichen Gesellschaft. Jeder relevante politische Konflikt ist national strukturiert. Der autonome Politikansatz distanzierte sich zu Recht von den erbaulichen Mythen linker Politikmacherei: weder »Klasse« noch »Volk« taugen als Subjekte der Emanzipation. Warum, erklärt die Kritik nationaler Ideologie. Insofern war und ist antinationale Kritik ein Fortschritt im Bewusstsein der Unfreiheit. Die Herausforderung besteht nun darin, diese geläuterte Kritik wieder praktisch zu machen. Keine einfache Aufgabe, weil sich diese Praxis gegen die geronnenen Interessen und institutionellen Formen richten muss, in denen Politik für gewöhnlich eingeschlossen ist. Aber unvermeidlich, wenn wir »etwas besseres als die Nation« (iv) noch erleben wollen.
Nation-Form und bestimmte Kritik
Um Inhalt und Verlaufsform spezifischer Nationalideologien angemessen bewerten zu können, muss man ihren Zusammenhang mit den grundlegenden Formen bürgerlich-kapitalistischer Vergesellschaftung begreifen. Ausgangspunkt des Nationalismus wie auch seiner Kritik ist nicht die einzelne Nation in ihren je eigentümlichen Entwicklungsvoraussetzungen. Ausgangspunkt ist das kapitalistische Weltsystem, der global ausgreifende Akkumulationsprozess, innerhalb dessen sich Staat, Kapital und nationale Ideologien bilden und transformieren. Deshalb heißt unsere Staatsbroschüre Staat, Weltmarkt und die Herrschaft der falschen Freiheit – zur Kritik des kapitalistischen Normalvollzugs. Der Untertitel bedeutet nicht, dass wir Deutschland als »ganz normale« Nation verharmlosen würden. Wir weisen im Gegenteil aus, was nationalistische Exzesse und insbesondere die nationalsozialistische Ideologie mit den allgegenwärtigen Reproduktionsbedingungen von Staat, Nation und Kapital zu tun haben. (v) Diese Pointe wird von unseren antideutschen KritikerInnen zuverlässig ignoriert. (vi)
Die Unterstellung einer allgemeinen Nation-Form ist ein analytisches Konstrukt, aber ein notwendiges. Empirisch gibt es nicht die Nation als solche, sondern nur besondere Nationalstaaten. Doch das Konzept der Nation-Form fokussiert zu Recht zunächst einmal auf die allgemeinen Reproduktionsbedingungen der bürgerlichen Gesellschaft, wie sie sich im 19. Jahrhundert europaweit verallgemeinert haben und im 20. Jahrhundert global entwicklungsbestimmend wurden (vii): Trennung von politischer und ökonomischer Macht in Staat und Privateigentum, Durchsetzung der bürgerlichen Individualitätsform unter dem Gewaltmonopol des Staates, Entfaltung einer kapitalistischen Akkumulationsdynamik, Relativierung des anschaulichen Klassengegensatzes in der Weltmarktkonkurrenz der Nationalökonomien und nationale Kapitale etc.
Kritik der Nation ist Ideologiekritik. Gefühl und Gewissheit nationaler Identität erscheinen zunächst als unmittelbare und ursprüngliche Regungen, nicht als reflektierter theoretischer Standpunkt. Immanente Begründungsversuche konkreter Nationalideologien sind sekundäre Rationalisierungsversuche mit historisch variablem Inhalt: göttliches Mandat, natürliche Rasseeinheit, geschichtliche Prägung, revolutionäre Gründung, gemeinsames Schicksal – oft in wilder Mischung. Wesentlich ist, dass sie je gegenwärtige Identitätspostulate – also soziale Ansprüche – immanent widerspruchsfrei begründen und abgrenzen. Eine kritische Theorie der Nation und des Nationalismus muss ausweisen, wie diese spontanen identitären Haltungen mit den grundlegenden Formen bürgerlich-kapitalistischer Vergesellschaftung zusammenhängen. Erklärungsversuche über Tradition, Propaganda und kulturelle Prägung sind für sich genommen zirkulär. Sie erklären nicht, warum in aller Welt gerade diese, nämlich nationale Propaganda so massenhaft verfängt, warum hier und heute genau diese und keine andere so genannte Tradition akzentuiert wird. Entscheidend für die Rekonstruktion des Nationalismus ist ein Verständnis der allgemeinen Widersprüche und Bedrohungslagen, die er mit Bezug auf den Staat ideell aufzulösen sucht. Nur so ist überhaupt mit Bestimmtheit zu sagen, worin nationale Eigentümlichkeiten bestehen und wie sie sich reproduzieren.
Disko
Die skizzierte theoretische Perspektive hat nichts mit »Staatsfunktionalismus« zu tun. Sie ist auch keine gegen die Wirklichkeit abgedichtete »Ableitung«, und schon gar nicht »monokausalistisch«. (viii) Sie illustriert lediglich die tatsächliche Vermitteltheit nationaler Ideologie in den verallgemeinerten Formen kapitalistischer Reproduktion, ist also formkritisch. In der Tat wird »der Kapitalismus als der basale Grundzusammenhang verstanden, der alle anderen gesellschaftlichen Zusammenhänge ordnet«. (ix) Alles andere wäre unsachgemäß. Freihändige Verweise auf eine »multidimensionale herrschaftliche Bedingtheit« der Nation oder die prinzipielle Offenheit sozialer Kämpfe unterschätzen die durchgreifenden Formen gesellschaftlicher Reproduktion. (x) Formkritik steht damit aber nicht im Gegensatz zu hegemonietheoretischen Untersuchungen, sondern konkretisiert diese.
Die historische Erfahrung des Nationalsozialismus spielt für den Zuschnitt dieser Formkritik eine entscheidende Rolle. Sie informiert uns über einen ideologischen Fluchtpunkt der allgemeinen Konfliktlagen bürgerlich-kapitalistischer Vergesellschaftung. (xi) Die Ideologie der Volksgemeinschaft bietet eine spezifische Auflösung dieser Konfliktlagen: Die Perspektive eines durch rassische Abkunft gesicherten nationalen Privilegs, die autoritäre Befriedung der Klassengesellschaft, und im handgreiflichen Endkampf gegen eine projizierte jüdisch-plutokratische Weltverschwörung die Aussicht, die Ohnmachtserfahrung bürgerlicher Individualität ein für alle Mal aufzuheben. Dieser ideologische und staatspolitische »Lösungsversuch« zwingt uns nicht auf theoretische Sonderwege. Die antideutsche Pointe wäre zu verallgemeinern. Es ist richtig, die grundlegenden Widersprüche der bürgerlichen Gesellschaft stets in der Perspektive einer möglichen faschistischen bzw. nazistischen Aufhebung zu denken. Es ist aber falsch, dies nur gegenüber Deutschland zu tun. Der Nationalsozialismus muss als historisch situierte politische Bewegung ernst genommen werden, und nicht als bloßer Ausdruck eines wie auch immer begründeten deutschen Wesens.
In der Diskussion um die Staatsbroschüre wurde uns ein oberflächlicher und in seiner politischen Konsequenz naiver Begriff nationaler Formierung vorgeworfen. Thomas Ebermann hat diese Kritik auf mehreren gemeinsamen Veranstaltungen an Textpassagen festgemacht, die die historische »Integration der Klassengesellschaft zum Staatsbürgerkollektiv« betreffen. (xii) Auch Oliver Barths Kritik in der letzten Phase 2 stützt sich im wesentlichen auf diesen Abschnitt. (xiii) Wir »neuen Antinationalen« (xiv) hätten zentrale Mängel der Staatsableitung der Marxistischen Gruppe (MG) aus den siebziger Jahren übernommen, indem wir die Identifikation mit der Nation vor allem aus politökonomischen Oberflächenphänomenen wie »Interesse« und »Konkurrenz« herleiteten. Beide kritisieren etwa unseren Verweis auf die »materielle Besserstellung« im Staat als Motiv des proletarischen Nationalismus. (xv) Auch eine mögliche Beteiligung der Arbeiterklasse an nationalen Gewinnen der Kolonial- und Weltmarktkonkurrenz greife als Motiv zu kurz. Ebermann verweist hier zu Recht auf die Opferbereitschaft der Volksgenossen bis hin zur Selbstaufgabe in den Schützengräben des Ersten und Zweiten Weltkriegs. Ausschlaggebend ist demnach nicht rationales Nutzenkalkül, sondern eine tendenziell irrationale Identitätsprojektion der geknechteten Existenzen.
In dieser Gegenüberstellung können wir dem nur zustimmen, zumal sie der übergreifenden Argumentationslinie der Staatsbroschüre entspricht. Die problematisierte Passage ist einfach schwach geschrieben. Doch in seinem Gesamtaufbau zielt unser Text genau darauf, den immer wieder »irrational« überschießenden Reflex ideologischer Widerspruchsbereinigung kleinschrittig auseinanderzusetzen. Interpretationsrahmen ist von Beginn an die »alltägliche Irrationalität« der kapitalistischen Ratio (xvi), und hier konkret die zur zweiten Natur geronnene Traumatisierung der Lohnabhängigen in den Absatzschlachten des Weltmarkts. Zentraler Begründungszusammenhang des nationalen Identitätsbegehrens ist also nicht das isolierte private Interessenkalkül, sondern die konstitutive Bedrohungslage des verstaatlichten Individuums angesichts global verselbstständigter Verwertungszwänge. Um die drängende Dynamik des projektiven Prozesses zu erfassen, müssen die grundlegenden Widersprüche der bürgerlichen Individualitätsform benannt werden. Die Staatsbroschüre verweist hier elementar auf die »charakteristische Schizophrenie (…) staatsbürgerlicher Existenz« (xvii), die kaum lösbare und kaum auszuhaltende Spannung im Verhältnis einer stets überforderten Privatautonomie und eines stets frustrierten Gleichheits- und Anerkennungsversprechens, zusammengehalten durch den lebensbestimmenden Zwang, die eigene Haut zu Markte zu tragen. Das antideutsche Gerücht, die Deutschen hätten sich nie von der Gemeinschaft zur Gesellschaft emanzipiert, überreizt die soziologisch legitime Frage nach korporatistischen Formen des Kapitalismus hierzulande. »Interesse« ist in diesem Zusammenhang als von Grund auf widersprüchliche Motivationslage gedacht. Es ist nicht das Gegenteil »irrationaler« Überschüsse des Ideologischen, sondern deren Kraftquelle. (xviii)
Der häufige Verweis der Staatsbroschüre auf die Bedeutung der »Konkurrenz« im beschriebenen ideologischen Reflexbogen mag stilistisch unbefriedigend sein. Doch anders als fortwährend unterstellt (xix), ist damit kein plattes Oberflächenphänomen angesprochen, sondern Konkurrenz als durchgreifende Manifestation der Tauschwertvermittlung, jenes »stummen Zwangs« des »automatischen Subjekts« (Marx), der besinnungslos Lebenschancen gewährt oder verweigert. (xx) Die tagtäglich erfahrbare Unwägbarkeit des individuellen wie des nationalökonomischen Verwertungsschicksals untermauert die ideologische Anziehungskraft des Staates als Verkörperung souveräner Handlungsfähigkeit. (xxi)
Unsere Engführung von politökonomischer und ideologischer Form wurde wiederholt als »ökonomistisches« Denken in »Hauptwidersprüchen« kritisiert. (xxii) Dieser Vorwurf überrascht, denn unsere Thesen sind durchweg als Kritik des marxistischen Hauptwiderspruchstheorems angelegt, indem sie die vermittelnde Rolle der politischen Gewalt, der reellen Verstaatlichung von Kapital und Arbeit und der projektiven Dynamik des Ideologischen herausarbeiten. Barth belehrt uns hier mit einem Hinweis, den er unserer Staatsbroschüre selbst entnommen hat: Dass die bürgerliche Gesellschaft gerade nicht – wie Marx und Engels im Manifest noch formuliert hatten – durch das »nackte Interesse« und die »gefühllose bare Zahlung« zusammengehalten werde, sondern durch obskure Ideologien. (xxiii) Umgekehrt verzichtet die Naturfreundejugend Berlin (NFJ) gleich ganz darauf, den Zusammenhang von Nationalismus als ideologische Form und Kapitalismus als objektive Reproduktionsordnung auszuweisen. Nationalismus wird abstrakt als »Konstruktion« und »kontrafaktische Behauptung« (xxiv) verworfen, ohne dass recht klar würde, warum die Welt seit 200 Jahren darauf hereinfällt. (xxv) Der Nationalstaat wird zirkulär als »politische[s] Projekt« einer historisch siegreichen bürgerlichen Klassenfraktion erklärt. Die widersprüchliche Gleichheit bürgerlicher Individuen erscheint nur noch als »Illusion«, ihre Klassen übergreifende Abhängigkeit von den Konjunkturen der Nationalökonomie als bloße »Fiktion«.
Zur Begründung der unterstellten »deutschen Spezifik« berufen sich unsere KritikerInnen auf die »relative Autonomie« des Sozialen (Barth) bzw. auf das schillernde »Eigenleben« und die »Kontinuitäten« des Ideologischen (INEX). Ohne die Annahme einer »Zähigkeit von Ideologien« könne man überhaupt keine deutsche Spezifik erklären. (xxvi) Bei diesen Einwürfen handelt es sich erkennbar um Stehgreifhypothesen. »Kultur« wird herbeizitiert, um ideologische und soziale Sonderwege zu erklären, die sich in der Tat nicht aus der Formbestimmtheit der bürgerlichen Ideologie ableiten lassen. Konzepte wie »Zähigkeit« oder »Eigenleben« scheinen plausibel, sind aber bloß zirkelschlüssige Metaphern. Eine unterstellte Nationaleigentümlichkeit wird als »kulturelle Prägung« einfach vorausgesetzt – ganz so, wie es der bürgerliche Nationalismus seit zwei Jahrhunderten auch tut. So sei laut INEX der deutsche »Wille zur Gemeinschaft (…) wohl eher psychologisch zu erklären als mit dem Kapitalismus«. (xxvii) Die deutsche Spezifik wese von alters her »unter ihrer staatlichen Überformung fort«. (xxviii) Materialistische Ideologiekritik muss auf solche Spekulationen verzichten.
Wer nicht an systematischer Wahrnehmungsverzerrung leidet, muss anerkennen, dass der »spezifisch deutsche« Nationalismus oft so spezifisch deutsch gar nicht ist. Vor allem ist er derzeit ideologisch nicht konsistent strukturiert, jedenfalls nicht konsistent völkisch. Es gibt eine quer laufende liberalistische Leistungsideologie und einen Sozialchauvinismus, der sich auch gegen Volksdeutsche richtet. Insofern ist die aktuelle ethnonationalistische Zuspitzung der »Sozialstaatsdebatte« zur »Integrationsdebatte« gerade kein Ausweis völkischer Disposition. Sie ist vor allem kein deutsches Spezifikum.
Zurückfinden
Aufbauend auf einer Theorietradition, die die »totale (Wert-)Vergesellschaftung« der Individuen in den Mittelpunkt stellt (xxix), beschreibt antideutscher Fatalismus Ideologie in der Regel als hermetisches Gefüge. Antinationale Kritik fokussiert, dem gegenüber, auf die alltäglichen Mühen ideologischer Widerspruchsbereinigung. Ohne in naiven Bewegungsoptimismus zu verfallen, und ohne auf Klassenkampfrhetorik zurückgreifen zu müssen, ergeben sich hier immer wieder Ansatzpunkte theoretischer und politischer Radikalisierung. Doch das post-autonome Spektrum hat in der Regel keine belastbare politische Anbindung an institutionelle Kampffelder und gesellschaftliche Reproduktionskreisläufe. Das Bündnis Interventionistische Linke versucht deshalb, über Projekte wie No Paseran! oder Castor schottern! die Spielräume antikapitalistischer Kritik im bürgerlichen Lager zu erweitern. Ob dabei mehr als Zivilgesellschaft herauskommt, ist immerhin offen. Wir selbst haben in den Krisenprotesten 2009/2010 die vorhersehbare Erfahrung gemacht, dass eine fundamentale Staatskritik in weiten Teilen der Bewegungslinken beargwöhnt wird, teils wegen eigener Staatsgläubigkeit, teils aus Angst, die BürgerInnen zu vergraulen. Wir haben aber auch gesehen, dass sich eine solche Haltung im konkreten Bündnis aufbrechen lässt, wenn man Standortkonkurrenz als Motor sozialer Spaltung und intensivierter Ausbeutung kenntlich macht. Ideologiekritik und Neue Marx-Lektüre sind für den Arsch, wenn sie sich dieser Aufgabe nicht widmen. Dass es derzeit kaum Formen politischer Kollektivität gibt, die die nationalen Spaltungslinien zuverlässig überbrücken, sollte niemanden entmutigen.
TOP B3rlin (Dezember 2010)
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i Dass der einstige Bundestagspräsident diesen kritisch-theoretischen Schlüsselbegriff so leicht enteignen konnte, liegt an dessen Fundierung in einer historisch allzu unspezifischen ›Kritik der instrumentellen Vernunft‹.
ii http://krise.blogsport.de.
iii UmsGanze, Staat, Weltmarkt und die Herrschaft der falschen Freiheit, Berlin 2009. Zit. n. http://umsganze.de/media/Staatstext_web.PDF.
iv Slogan der Wohlfahrtsausschüsse in den frühen neunziger Jahren, wieder aufgegriffen als Motto der antinationalen Parade 2009.
v UmsGanze, Staat, 78.
vi INEX, Nie wieder Revolution für Deutschland, Leipzig 2009, 24f.
vii UmsGanze, Staat, 35-40.
viii Associazione delle Talpe: Zit. n. http://associazione.files.wordpress.com/2010/07/antideutsch-antinational-hegemonial.pdf, 37ff. und INEX, Deutschland lieben, Jungle World 44 (2009), Dossier; Diskus (2) 2010, 3.
ix INEX, Deutschland lieben.
x Naturfreundejugend Berlin, Positionen, Berlin 2009, 7. C. Außerhalb, Klassen, Kampf und Konkurrenz, Diskus (2) 2010, 50ff.
xi Dass uns die Rekonstruktion dieses Zusammenhangs als »Verhöhnung der Opfer in den Vernichtungslagern« vorgehalten wird, illustriert den latenten Irrationalismus eines moralistischen Antideutschtums. Dan Tarbow, Diskus (2) 2010, 19.
xii UmsGanze, Staat, Kap. 8.
xiii Oliver Barth, Postnazismus, Staatsableitung, Zivilgesellschaft? Phase 2.37 (2010), 52-55. http://phase2.nadir.org/rechts.php?artikel=831&print=ja
xiv Associazione delle Talpe, Postnazismus, 35ff.
xv UmsGanze, Staat, 41.
xvi UmsGanze, Staat, 15.
xvii UmsGanze, Staat, 49.
xviii Barth unterstellt uns hier eine von ihm frei erfundene Priestertrugthese: Nationalismus als Folge von »Vorgaukeln falscher eigener Interessen mittels der nationalen Karte«. Vgl. Barth, Postnazismus, 54.
xix Barth, Postnazismus, 54; Diskus (2) 2010, 3ff, 29, 50ff. NFJ, Positionen, 7.
xx UmsGanze, Staat, 16f. Dass wir diesen Gedanken in einer Massenpublikation nicht werttheoretisch ausbuchstabieren, sollte nachvollziehbar sein.
xxi UmsGanze, Staat, Kap. 15 u. 16.
xxii AK Grandhotel Abgrund, Diskus (2) 2010, 7; INEX, Deutschland lieben.
xxiii Barth, Postnazismus, 55. Vgl. UmsGanze, Staat, 40ff, 65ff.
xxiv NFJ, Positionen, 10, 18. Im Folgenden 12, 16, 18f.
xxv Die NFJ formuliert hier tatsächlich eine Trugtheorie: »Mit dem Konzept des ›Volkes‹ schafft der Nationalstaat die Illusion eines homogenen Inneren.« NFJ, Positionen, 16, vgl. 29.
xxvi Barth, Postnazismus, 54 INEX, Nie wieder Revolution für Deutschland, 36.
xxvii INEX, Deutschland lieben.
xxviii INEX, Podiumsdiskussion am 11.9.2010 in Bremen, dokumentiert auf www.top-berlin.net.
xxix Stefan Breuer, Aspekte totaler Vergesellschaftung, Freiburg 1985.