Zum Stand der antikapitalistischen Proteste im Sommer 2012 – Auswertung und Einschätzung der Krisenproteste M31 & Blockupy
Bis zum Frühjahr war fast alles wie immer. Während in Griechenland und Spanien die Leute massenhaft auf die Straße gingen und gegen das größte Verarmungsprogramm seit dem Zweiten Weltkrieg demonstrierten, hetzte die Bild-Zeitung hierzulande gegen die »Pleite-Griechen«. Die Bundeskanzlerin verlangte »Durchgriffsrechte« auf Haushalte fremder Staaten und der deutsche Außenminister forderte die griechische Regierung auf, »ihre Hausaufgaben zu machen«. Der neu in Stellung gebrachte deutsche Chauvinismus wurde flankiert vom hiesigen Pakt zwischen Kapital und Arbeit. Angeführt wurde dieser vom rechten Flügel der Sozialdemokratie, denen selbst in der Opposition der Vormarsch gegen die vermeintlichen südeuropäischen Leistungsverweigerer kaum schnell genug gehen kann, und einem Gewerkschaftslager, dessen Solidaritätsbekundungen allzu oft an der Landesgrenze enden. – Der europaweite Aktionstag »M31« Ende März und die Blockupy-Proteste in Frankfurt Mitte Mai setzten dem ein deutliches Signal des Protestes entgegen. M31 und Blockupy wendeten sich gegen die Krisenpolitik der deutschen Regierung und der Europäischen Zentralbank und wiesen darauf hin, dass die gegenwärtigen Finanz- und Staatskrisen ebensowenig wie die neoliberale Verelendungspolitik unabänderbare Naturphänomene sind, sondern vielmehr Teil des kapitalistischen Exzesses, der für die Mehrheit der Menschen immer schon eine Krise in Permanenz gewesen ist. Einige Tausend Menschen sind im Zuge von M31 und Blockupy auf die Straße gegangen: für eine bessere, eine solidarische Gesellschaft jenseits des Kapitalismus. So unterschiedlich die beiden Ereignisse auch waren, sie könnten der Beginn eines neuen politischen Aufbruchs, einer umfassenden Repolitisierung der Krise und der Krisenerfahrung gewesen sein.
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Sicherlich, von einer Gegenhegemonie vernünftiger Kapitalismuskritik sind wir noch weit entfernt. Stattdessen wird immer noch allzu oft gegen Banker und Bonzen und die Gier der Finanzmärkte gepöbelt. Auch vor diesem Hintergrund waren M31 und Blockupy unterschiedliche Antworten auf die Frage nach emanzipatorischen Perspektiven jenseits von Staat, Nation und Kapital. M31, einerseits, war konzipiert als ein europaweiter, dezentral organisierter Aktionstag, mit einer klaren antikapitalistischen Agenda, in Frankfurt in Form einer Demonstration. M31 stellte den Versuch dar, die von Deutschland dominierte europäische Krisenpolitik im Zeichen von Austeritätspolitik und längst abgehalfterten neoliberalen Ordnungsvorstellungen zu skandalisieren. Unser wichtigstes Ziel als …ums Ganze!-Bündnis war es, eine antikapitalistische und antinationale Kritik in der Öffentlichkeit wahrnehmbar zu machen sowie unsere Solidarität mit den von der Krisenpolitik betroffenen Menschen in Griechenland zu bekunden. Das hat funktioniert. In der Vorbereitung auf den Aktionstag verständigten wir uns, zusammen mit dem Krisenbündnis Frankfurt und der FAU, frühzeitig auf fünf common goals, die von allen Gruppen geteilt werden sollten: Die Proteste solllten einen antikapitalistischen, antinationalen, antietatistischen, selbstorganisierten und spektrenübergreifenden Charakter haben. Unser zweiter Anspruch war, die nationale Beschränktheit der Krisenproteste zu überwinden. Dies ist ein Prozess, momentan immer noch mehr eine Idee, für die wir und andere erst noch Strukturen und Aktionsformen entwickeln müssen. Es ging uns jedoch darum, einen Anfang zu machen, uns mit Aktivist|innen aus anderen Ländern zu vernetzen, mit denen wir grundsätzliche Ziele und Aktionsformen teilen können. Damit wendeten wir uns insbesondere gegen die deutsche Regierung, die sich zum Zuchtmeister der Europäischen Union aufschwingt, und gegen die Europäische Zentralbank als technokratische Hüterin der Geldwertstabilität, die eine Politik verkörpert, die die Steigerung der Konkurrenzfähigkeit des europäischen Kapitalismus auf Kosten der Arbeitenden und Arbeitslosen Europas betreibt. Womit wir nicht gerechnet haben, war der erfreuliche Zuspruch zu diesem Aktionstag. In der Bundesrepublik haben viele kleine und größere Gruppen, von Flensburg bis München, zu den Protesten aufgerufen. In über dreißig europäischen Städten haben sich im Rahmen von M31 Leute an Kundgebungen, Aktionen und Demonstrationen beteiligt, unter anderem in Athen, Mailand, Kiew, Utrecht, Zagreb, Wien, in vielen spanischen Städten und sogar auch in New York und Mexiko Stadt. Einige davon waren nur symbolische Aktionen, es ging aber darum, einen politischen Bezugspunkt in der Krise zu schaffen. Ganz offensichtlich gibt es nach mehr als zwei Jahrzehnten neoliberaler Umverteilung von oben das Bedürfnis, eine grundsätzliche Kritik am Kapitalismus vorzubringen, jenseits der etablierten staatlichen Repräsentationsformen. Auch aus diesen Gründen bewerten wir M31 als Erfolg, der sich nicht an der Zahl zerstörter Fensterscheiben bemessen lassen musste, auch wenn die Medien, die sich genau auf die Bilder einer Black-Block-Demonstration gestürzt haben, das gerne so gehabt hätten. Zumindest dürfte es in der Bundesrepublik das erste Mal seit sehr langer Zeit gewesen sein, dass es gelungen ist, ein Anliegen mit dezidiert antikapitalistischer Agenda in einer breiteren Öffentlichkeit bekannt zu machen.
Das Verhalten von Presse und etablierter Politik nach M31 war in diesem Zusammenhang selbst an den eigenen bürgerlichen Ansprüchen gemessen verlogen und zynisch: Während die deutsch-europäische Krisenpolitik halb Südeuropa sozial verwüstet, in Griechenland und Spanien immer mehr Menschen sterben, weil sie oder der Staat ihre Gesundheitsversorgung nicht mehr bezahlen können, wurde die Frankfurter M31-Demonstration als entfesselte Randale dargestellt, obwohl doch nur ein paar symbolträchtige Scheiben zu Bruch gingen: beim Jobcenter, einer Leiharbeitsfirma, der Ausländerbehörde, der Polizei und bei einem Brautmodenladen. Mit dem Näherrücken der Blockupy-Proteste sechs Wochen später führte das dazu, dass Staat und Medien ein in Frankfurt seit Jahrzehnten nicht mehr dagewesenes politisches Bedrohungsszenario herbeiphantasierten.
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Mitte Mai dann: Blockupy. Nachdem die Presse das Thema erfolgreich hochgeschrieben hatte, entschied sich die Stadt Frankfurt zusammen mit der hessischen Landesregierung dafür, alle Veranstaltungen zu verbieten. Mehrere Tausend Polizist|innen wurden in die Stadt beordert, jeglicher Protest kriminalisiert, in der Presse häufig mit Verweis auf die M31-»Ausschreitungen«. Wie es im Konfliktfall um die Meinungsfreiheit in der Bundesrepublik bestellt ist, verdeutlichten dann die zuständigen Gerichte in ihrer Verbotsverfügung: Blockupy sei zu verbieten, da die Proteste einen Eingriff in das »Grundrecht« auf Eigentum darstellen würden, insbesondere das der innenstädtischen Banken und Händler, deren Geschäfte durch die geplante Metropolenbesetzung in Mitleidenschaft gezogen werden könnte.
Im Gegensatz zu M31 war Blockupy keine dezidiert antikapitalistische Protestform. Das Blockupy-Bündnis, darunter insbesondere die Interventionistische Linke, wendete sich an alle, die gegen das Spardiktat von IWF und Troika protestieren wollten. Blockupy hatte zudem das Ziel, bewusst das linke Parteien- und Gewerkschaftsspektrum anzusprechen, setzte insgesamt auf Massenmobilisierung und Massenwirksamkeit und mit dem Frankfurter Bankenviertel zudem auf einen zentralen Ort des Protestes. Als …ums-Ganze-Bündnis beteiligten wir uns an den Protesten mit einem barrio anticapitalista, mit Zeitungen, Flyern und Workshops zu Sozialchauvinismus, internationalem Antinationalismus und dem Elend des Linksreformismus. Davon klappte aufgrund von Anwendung unmittelbaren Zwangs nur die Hälfte, war aber als Intervention in eine grundsätzlich sinnvolle Unternehmung gedacht.
Blockupy hatte, so die Ausgangsüberlegung des Vorbereitunsgbündnisses, eine Art antikapitalistisches Wendland in Frankfurt werden sollen. Der deutsche Staat jedoch reagierte extrem unlocker. Schon Wochen vor der angekündigten Blockade des Bankenviertels nahmen die Reaktionen in Presse und Politik immer schrillere Züge an. Sie zeigten, dass Blockupy wie schon zuvor M31 einen Nerv getroffen hatte. Dass die Regierenden in Frankfurt keine Sekunde zögerten, den liberalen Anspruch der selbsterklärten Bürgerstadt einer polizeistaatlichen Antwort zu opfern, war daher zwar ein Skandal, der gleichwohl nicht überraschend kam. Ruhe und Ordnung um jeden Preis, und koste es die Grundrechte – das ist die Linie autoritärer Krisenpolitik, jetzt auch in Deutschland. Es greift zu kurz, die Reaktionen der Politik auf Blockupy als »überzogen« zu bezeichnen. Der Liberalismus hatte immer schon den autoritären Staat in der Hinterhand, und der hat sich in Frankfurt vorgestellt. Blockupy war für die Politik eine Vorbereitung auf offensivere Krisenproteste, eine Übung für den Ausnahmezustand. Auch aus diesem Grund waren die Proteste ein Erfolg: Sie haben für einen kurzen Moment eine reale und nicht mehr nur symbolische Konfliktlinie deutlich gemacht zwischen denen, die an den herrschenden Verhältnissen festhalten, und denen, die etwas Besseres wollen.
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Ideologiekritisch gesehen ist dabei durchaus interessant, auf welche Weise die Organe des deutschen Krisennationalismus in Frankfurt agiert haben. In einer mit Griechenland oder Spanien verglichen relativ entspannten Situation reagierten die Staatsapparate paranoid: Dazu gehörten die 500 ausgesprochenen Stadtverbote im Vorfeld als auch die 1500 Ingewahrsamnahmen an den Aktionstagen. Weiterhin ist bemerkenswert, dass die hessische Politik nicht nur versucht hat, ein Verbot selbst der Demonstration am Samstag durchzusetzen, sondern dass die sonst eher liberalen deutschen Gerichte über Instanzen hinweg bereit waren, der Bedrohungsargumentation der Stadt unter Verweis auf die Schutzbedürftigkeit des bürgerlichen Eigentums zu folgen. Politik und Gerichte befürchteten zusammen mit den Banken und dem Einzelhandel tatsächlich um eine Einschränkung der Frankfurter Geschäftsfähigkeit. Die Banken verlagerten Abteilungen in den Taunus und gaben ihren Angestellten frei aus Angst um deren Leib und Leben. Bereitwillig spielten die Medien dieses Angstspiel mit und ließen die antikapitalistischen Aktivist|innen mehr und mehr als im Grunde hackebeilchenschwingende Unholde erscheinen, die hemmungslos Jagd auf Anzugträger machen würden, wenn man sie nur in die Stadt ließe. Das war einerseits absurd, machte aber deutlich, dass alle grundsätzlicheren Erörterungsversuche der deutschen Standortpolitik hierzulande immer noch als etwas Abwegiges erscheinen, Gegenstand nicht der Politik, sondern der Polizei.
Eben die ließ sich in der Blockupy-Woche nicht zweimal bitten und verwandelte Frankfurt in eine Festung. Dass sämtliche Stadtverbote und ein Großteil der Ingewahrsamnahmen von den Gerichten später kassiert wurden, änderte an der repressiven Wirkung des uniformierten Aufgebots nichts, auch weil die Polizei munter weiter Demonstrant|innen festsetzte. Dennoch setzten sich hunderte Menschen immer wieder über die Aufenthalts- und Demonstrationsverbote hinweg, viele Protestaktionen fanden trotz des massenhaften Polizeiaufgebots statt. Die mehrtägigen Proteste und die massive Repression polarisierten immerhin auch die Stadtgesellschaft. Hatte etwa die liberale Frankfurter Rundschau noch vor den Protesten in das Horn der Polizeistrategen geblasen, änderte sich die Berichterstattung vor dem Hintergrund eines wachsenden Unbehagens in Teilen der Öffentlichkeit über das Leben in einer Hochsicherheitszone hin zu einer deutlichen, aber gleichwohl bürgerlichen Kritik der Polizeistrategie. Trotz alledem waren es insgesamt noch viel zu wenige Menschen, die sich an den Blockaden beteiligten, und aus der vom Blockupy-Bündnis angekündigten Blockade der EZB wurde mangels kritischer Masse nur insofern etwas, als die Polizei das Bankenviertel schließlich erfolgreich selbst blockierte.
An der Demonstration am Samstag nahmen dann über 30.000 Menschen teil, so viele wie schon lang nicht mehr auf einer politischen Demonstration abseits der rituellen Jahrestage wie dem ersten Mai. Neben den üblichen linksreformistischen Verkürzungen von Attac-, Gewerkschafts- und Linkspartei-Redner|innen war auch personalisierende Kritik an »Bankern und Bonzen«, an der vermeintlichen »Gier« der »1%« und der »Finanzoligarchen« etc. zu finden. Ein paar antisemitische Deppen hatten sich sogar Boykottaufrufe gegen Israel auf den Bauch gemalt. Problematisch war auch die (Selbst-)Einengung auf die Grundrechte- und Demokratiefrage angesichts der Kriminalisierungsversuche bei einem Teil der Organisator|innen und der Demonstrationsteilnehmer|innen. Einigen von ihnen schien am Ende schon zu genügen, dass die Demonstration von Staates Gnaden überhaupt stattfinden konnte. Dennoch: All diese Positionen prägten gerade nicht die Demo als Ganze. Vielmehr stand die Kritik an der neoliberalen Krisenpolitik und den Austeritätsprogrammen im Vordergrund, ein Großteil der Demonstrant|innen bekundete Solidarität mit den Betroffenen der Krise und erteilte der Standortkonkurrenz eine deutliche Absage.
Über 5000 Menschen demonstrierten zudem in einem schwarz-bunten und dezidiert antikapitalistischen Block, der spektrenübergreifend von der Interventionistischen Linken und von …ums Ganze! organisiert wurde und deren Teilnehmer|innen dem martialischen Bullenaufgebot mit guter Stimmmung entgegentraten; ein positives Zeichen, auch für weitere gemeinsame Projekte. Es ist dabei insgesamt das Verdienst von M31 und von Blockupy, den politischen Charakter der Krise auf die Agenda gesetzt zu haben. Genau hier müssen wir in Zukunft anknüpfen.
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Was zum jetzigen Zeitpunkt der Krise ansteht, ist eine grenzübergreifende Vernetzung der Proteste, und zwar von unten. Der kleinteiligen Struktur der Gruppen sollten wir dabei offensiv begegnen. Hier, in der Bundesrepublik, wollen wir stärker als früher ins Gespräch kommen mit all jenen Gruppen, die die M31- und Blockupy-Proteste unterstützt haben und die für eine radikale Kapitalismuskritik offen sind. M31 hat gezeigt, dass wir in kurzer Zeit komplexe Bündnisse aufbauen können, und wir werden daran in Zukunft weiterarbeiten. Die Vernetzung zwischen verschiedenen Gruppen und Regionen ist uns in der nächsten Zeit besonders wichtig; das Ziel wäre nicht zuletzt die rasche Koordination auf überregionaler und internationaler Ebene. Gemeinsamen, auch internationalen Projekten sehen wir daher mit Freude entgegen, kommen gerne zu Events in Deutschland und anderen Ländern vorbei und sind an Diskussionen interessiert, vor Ort, bei Euch und bei uns. Unser gemeinames Ziel muss es sein, die derzeitige Krisenpolitik und -deutung nachhaltig zu delegitimieren und gemeinsam mit Betroffenen hier und in anderen Ländern so etwas wie eine soziale und intellektuelle Gegenmacht zu entwickeln. Wir sind nicht größenwahnsinnig geworden, der Anspruch ergibt sich aus der kaum lösbaren Zwickmühle des Kapitalismus selbst. Unsere umfassende Kritik an den Verhältnissen wird sich zudem in Zukunft stärker im Handgemenge beweisen müssen. Schon klar, dass es bislang an greifbaren Alternativen zum Kapitalismus mangelt. Aber die fallen nicht vom Himmel, sie entstehen im politischen Prozess.
…ums Ganze!, August 2012