Die selektive Solidarität durchbrechen


Ende Januar hat die chinesische Zentralregierung Wuhan und andere Städte in der Provinz Hubei unter Quarantäne gestellt und ganze Krankenhauskomplexe in wenigen Tagen aus dem Boden gestampft. Auf die Verbreitung des neuartigen Virus SARS-CoV-2 und die drastischen Maßnahmen zu dessen Eindämmung reagierten Beobachter*innen in europäischen Gesellschaften mit einer Mischung aus Faszination und Abscheu. Ausgeschlossen schien, dass „so etwas“ hier möglich sei.

Nur wenige Wochen später stapeln sich in Italien und Spanien die Särge vor den Hallen eines durch die europäische Austeritätspolitik kaputt gesparten Gesundheitssystems und die Wörter „Ausgangssperre“, „Quarantäne“ und „Kontaktverbot“ sind eine manifeste Realität unseres Alltags geworden. Der Ausnahmezustand wirft uns – wenn auch auf höchst unterschiedliche Art und Weise – aus unseren privaten und politischen Alltagsroutinen und Gewohnheiten. Der folgende Text ist eine erste Zwischenbilanz einiger politischer Fragen, die sich aus der gegenwärtigen Situation ergeben. Er steht unter dem Vorbehalt des situativen Denkens. Jeder Versuch, die Geschehnisse auf den Begriff zu bringen, ist vorläufig.

In Deutschland zielen die staatlichen Maßnahmen zur Eindämmung des Virus auf die Kontrolle der Bewegung im öffentlichen Raum, die Einschränkung der privaten Kontakte in der Freizeit, sowie eine Änderung des individuellen Hygieneverhaltens. Damit einher geht eine enorme Aufwertung des epidemiologischen Wissens und seiner Träger*innen in den Staatsapparaten. Wir können beobachten, dass weitreichende politische Entscheidungen und Grundrechtsbeschränkungen mit Verweis auf die Expertise von Virolog*innen, allen voran jenen des staatlichen Robert-Koch-Instituts, gefällt werden. Durch den Verweis auf die wissenschaftliche Expertise werden Entscheidungen immer einer politischen Diskussion entzogen. Gleichzeitig eröffnet der virologisch begründete Ausnahmezustand der Exekutive einen großen Ermessensspielraum – und den nutzt sie derzeit auch, um linken Protest zu verunmöglichen. Das zu sagen, heißt nicht, das epidemiologische Wissen grundsätzlich in Frage zu stellen, oder zu behaupten, die Gefahr von Covid-19 sei in irgendeiner Art und Weise „konstruiert“, um den staatlichen Ausnahmezustand zu proben.

Die radikale Linke steht vor einer paradoxen Situation. Wir beobachten die digitalen Überwachungsfantasien, das Vorgehen gegen Demonstrationen und die Stilllegung jedes politischen Diskurses mit großer Sorge. Und natürlich tragen die gesundheitspolitischen Maßnahmen den Makel einer zynischen Doppelmoral, weil das tägliche Sterben an den europäischen Außengrenzen, in den Textilfabriken des globalen Südens, oder im Bombenhagel russischer und türkischer Kampfjets in Syrien, stillschweigend hingenommen wird. Gleichwohl ist es nicht möglich, sich einfach gegen diese Regierung der Gesellschaft und den Zugriff auf unsere Subjektivität zu stellen. Physische Distanz, die Vermeidung von Menschenmengen, eine gewisse Einschränkung unserer Sozialkontakte: Zumindest solange kein Impfstoff existiert, scheint das sinnvoll. Die Alternative jedenfalls wäre eine sozialdarwinistische Logik der Auslese, die unter dem gegebenen Zustand des Gesundheitssystems mit der ungebremsten Zirkulation des Virus einherginge. Es ist kein Zufall, dass die „starken Männer“ von Trump bis Bolsonaro mit dieser Option sympathisieren. Die gegenwärtige Situation lässt sich nicht in der binären Logik einer einseitigen Parteinahme auflösen: Es gibt nicht einfach ein „dafür“ und „dagegen“. Behauptungen, die staatlichen Maßnahmen wären nur autoritär sind ebenso falsch, wie das auch unter Linken zu beobachtende Denunziantentum und der allgemein grassierende Untertanengeist. Wer unterhalb dieser Fallhöhe argumentiert, verweigert sich der Komplexität der Situation.

Von Nachbarschaftshilfen zum zivilen Ungehorsam

Was also tun? Trotz des Festhaltens an einem vernünftigen Kern der staatlichen Maßnahmen dürfen wir uns nicht einfach dem medizinischen Diskurs der Epidemiologie und der staatlichen Bevölkerungspolitik unterwerfen, der uns jeglicher politischer Sprechfähigkeit beraubt. Es ist absurd, dass es problemlos möglich ist, 175.000 gestrandete Urlauber*innen zurückzuholen und gleichzeitig die humanitäre Aufnahme von 5.500 Geflüchteten auszusetzen. Gleichzeitig werden Geflüchtete hierzulande weiterhin in Sammelunterkünften zusammengedrängt, die sie einer ungleich größeren Gefahr der Ansteckung aussetzen. Grundsätzlich verbannen die staatlichen Maßnahmen die Verantwortung für die Eindämmung von SARS-CoV-2 in den öffentlichen Raum und die privaten Sozialbeziehungen. Die kapitalistische Warenproduktion hingegen soll mehr oder weniger ungehindert weiterlaufen. In den Amazon-Logistikzentren, auf Baustellen und bald auch auf deutschen Spargelfeldern müssen Arbeiter*innen weiterhin antanzen. Unter dieser Politik leiden derzeit Frauen*, die einen Großteil der Sorgearbeit leisten und vermehrt häuslicher Gewalt ausgesetzt sind, sowie prekär und migrantisierte Beschäftigte und Marginalisierte, wie Obdachlose in besonderem Maße.

Parallel zu den staatlichen Maßnahmen sind in vielen Städten spontane Netzwerke nachbarschaftlicher Solidarität entstanden. Sie korrespondieren mit der Anrufung einer nationalen Schicksalsgemeinschaft, aber sie gehen nicht darin auf. In Frankfurt/M sind einige von uns in diesen Netzwerken aktiv. Wir beobachten, dass viele Menschen, die sich jetzt zum Teil erstmals organisieren, die staatlichen Exklusionsmechanismen im Blick haben und kritisieren. Ideen wie Gabenzäune für obdachlose Menschen mussten nicht erst von außen an die Netzwerke herangetragen werden. Die Wut auf ein auch hierzulande kaputt gespartes und in Teilen privatisiertes Gesundheitssystem ist groß. Natürlich gilt das nicht für alle, die sich jetzt engagieren. Doch das deckt sich mit unseren Erfahrungen aus anderen sozialen Bewegungen: Orte, an denen Neues entsteht, sind immer von einer gewissen Ambivalenz durchdrungen. Wenn das in der Vergangenheit kein Ausschlusskriterium war, um mitzumischen – warum sollte es jetzt anders sein? In welche Richtung sich die Nachbarschaftsnetzwerke entwickeln, wird zum Teil auch von uns abhängen.

Gleichzeitig müssen wir so schnell wie möglich Strategien entwickeln, um jenseits der nachbarschaftlichen Mikropolitiken wieder handlungsfähig zu werden. Machen wir uns nichts vor: Die nachbarschaftlichen Solidaritätsnetzwerke sind in ihrer Reichweite und ihrem Aktionsradius beschränkt. Um die staatlichen Exklusionsmechanismen und Teilungsdispositive zu kritisieren und praktisch zu unterlaufen, brauchen wir auch im Ausnahmezustand Formen des politischen Handelns in der Öffentlichkeit – erst recht, weil wir uns in den kommenden Monaten hierzulande auf eine neue Konjunktur sozialer Kämpfe im Zuge der Wirtschaftskrise einstellen müssen. Es wird nicht reichen, Transparente aus den Fenstern zu hängen oder Online-Demonstrationen zu veranstalten. Ohne eine Praxis des zivilen Ungehorsams ist die Ethik der Fürsorge im Kleinen auch in Zukunft wenig wert. Wir fangen besser heute als morgen damit an, über das „wie“ nachzudenken.